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Leprakranke und Hitlerjungen

Von Markus Kauffmann

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Markus Kauffmann , seit 22 Jahren Wiener in Berlin, macht sich Gedanken über Deutschland.

Nicht mehr als zehn Kilometer von der Tiroler Landesgrenze in westlicher Richtung liegt die südlichste Stadt meiner "Windrosen-Serie": Sonthofen im Allgäu. Ein Ort der Gegensätze.


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Alle drei Jahre wälzt sich ein Zug seltsamer stummer Gestalten durch das sonst so gemächliche Städtchen: Pferde, Kuh, Katze, Sau, Geißbock, Kalb und Hahn begleiten Bauer und Bäuerin, Bub und Mädchen, Knecht und Magd. Ausschließlich junge Männer oder Buben tragen große hölzerne Gesichtsmasken und ziehen unter musikalischer Begleitung quer durch die Innenstadt bis zum Rathaus am Oberen Markt.

"Egga-Spiel" nennen die Einheimischen diesen uralten, auf vorchristlich-alemannische Ursprünge zurückgehenden Fastnachtsbrauch. Pantomimisch bestellen die Bauersleute das Feld und bereiten die Speisen. Da erscheint eine Hexe, Symbol für die bösen Kräfte, die der Natur innewohnen, stiftet Verwirrung, vertreibt das Vieh, "eggt" überall an undzerstörtdieArbeit. Doch schließlich wird sie gejagt, gefangen und eingesperrt. Im Funkenfeuer haucht sie ihren bösen Geist aus - die symbolische Überwindung heidnischen Glaubens.

Das in sanfte Mulden eingebettete, vom Nordrand der Allgäuer Alpen bewachte und von den Flüssen Iller und Ostrach umspülte Sonthofen blickt in der Tat auf eine sehr lange Siedlungsgeschichte zurück, die bis in die Steinzeit reicht, obwohl die ersten urkundlichen Erwähnungen im 12. Jahrhundert auftauchen. Südhofen wurde zu Sonthofen. In die Geschichte ging der Markt am 14. Februar 1525 ein, als sich hier alle aufständischen Bauern des Allgäus trafen. Der "Sonthofer Tag" gilt seither als Auftakt zum großen Deutschen Bauernkrieg.

Am Ende des gleichen Jahrhunderts lässt der Bischof von Augsburg hier ein Heim für Leprakranke bauen, obgleich man seit langem wusste, dass dieser schlimme Aussatz gefährlich ansteckend war. Von diesem Gebäude, das heute als Wohnhaus genutzt wird, führte ein Weg bis zur Pfarrkirche St. Michael. Obwohl man aus verständlichen Gründen den direkten Kontakt mit den Leprosen scheute, wollte man ihnen dennoch die Teilnahme am Gottesdienst nicht verwehren. Also mussten sie sich mit einer großen Ratsche ausstatten, damit sie die Gesunden warnen konnten. In der Kirche stellte man ihnen einen eigenen Kobel zur Verfügung. Ich frage mich, ob vor dem Hintergrund der damaligen medizinischen Verhältnisse auch heute solch großherzige Toleranz herrschen würde.

Feuer, Kriege und zuletzt noch 1945 die verheerenden Bombardements haben die alte Bausubstanz der Stadt leider nahezu zerstört. Eine Ausnahme bildet die Nazi-Ordensburg Sonthofen, ein gigantischer Komplex, der heute der Bundeswehr als Kaserne dient. Hoch aufragend über der Stadt kann man schon von weitem den Turm der "Ordensburg", sehen. Ab 1934 wurden die Anlagen von der Deutschen Arbeitsfront als Schulungsburg der NSDAP erstellt und später eine Adolf-Hitler-Schule eingerichtet. Hier wurden die künftigen Führer der NSDAP herangezogen. Sie mussten, ideologisch gefestigt und körperlich gestählt, den unbedingten Willen zum Herrschen erlernen. Noch 1944 sollen dort etwa 1700 Schüler gezählt worden sein. Sonthofen ist die einzige erhaltene der drei NS-Ordensburgen.

Wie man am Stadtwappen ablesen kann, waren früher die wichtigsten Erwerbsquellen der Erzabbau und die Erzverarbeitung sowie der Flachsanbau und die Herstellung von Leinwand. Im 19. Jahrhundert wurden sie aber durch Milchwirtschaft und gewerbliche Käserei abgelöst. Heute lebt die Stadt vor allem vom Tourismus, von der Landwirtschaft und der Bundeswehr.

Aachen, Glücksburg, Görlitz und Sonthofen - West, Nord, Ost, Süd - Deutschlands Windrose ist komplett.

Markus Kauffmann, seit 25 Jahren Wiener in Berlin, macht sich Gedanken über Deutschland.