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Lernen mit Begeisterung

Von Cathren Landsgesell

Reflexionen

Es ist relativ einfach, Schüler für das Lernen zu motivieren: Neue Bildungskonzepte zeigen, dass eine andere Schule möglich ist.


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Karin Graf hat Außergewöhnliches zu erzählen: Von Kindern, die sich freuen, wenn sie einen Test machen dürfen, die Mathematik lieben und neugierig sind auf jeden neuen Tag, den sie in die Schule gehen dürfen. Kinder und sogar Jugendliche, die außerdem gerne aufräumen. Das ist kein Wunder. Nicht für Karin Graf - obgleich auch sie überrascht ist, welche Dynamik ihre neue Form des Lernens entfaltet hat.

"Erfahrungen machen"

Graf ist die pädagogische Leiterin der ersten "LAIS.Schule" in Österreich, die vor rund einem Jahr in Klagenfurt gegründet wurde. Dort wird nach dem Prinzip des "natürlichen Lernens" Wissen weitergegeben: Von den Lehrern an die Schüler, wie in jeder anderen Schule auch, nur wechseln hier öfter die Rollen. Die Kinder sind Lehrende und Lernende zugleich. Sie lernen in offenen Gruppen ihrer eigenen forschenden Neugier folgend: "Lernen bedeutet, Erfahrungen zu machen. Wir geben den Kindern den Freiraum, sich angstfrei neue Themen anzueignen. Wir geben ihnen die Begeisterung für das Lernen zurück", sagt Karin Graf. Dass es die LAIS.Schule gibt, ist ein Symptom einer grundlegenden Veränderung, die sich im Bildungsbereich abzeichnet. Innerhalb und neben dem Regelschulsystem entwickeln sich alternative Formen des Lernens, die mit dem Frontal-Unterricht im 45-Minuten-Takt brechen. Sie bringen nicht nur neue Methoden in den Unterricht, sondern auch ganz neue Inhalte: Fächer, die "Verantwortung" heißen oder "Leben lernen" und auf die Vermittlung von Metakompetenzen wie Selbstverantwortung, Empathie und Kreativität abzielen.

"Es kann heute gar nicht mehr um Wissensvermittlung im alten Sinne gehen", sagt die Bildungsinnovatorin Margret Rasfeld, die die Initiative "Schule im Aufbruch" mitbegründet hat. "Die Schule muss vielmehr die Grundlagen schaffen, damit Menschen mündig die Gesellschaft mitgestalten können. Deshalb muss sie auf Potenzialentfaltung ausgelegt sein, nicht auf das Abfüllen mit Wissen, das morgen schon wieder veraltet ist."

Die Unzufriedenheit mit dem Alten und das Wissen, dass die Schule in ihrer jetzigen Form nicht zukunftsfähig ist, sind der Motor für die neuen Bildungsinitiativen. "Es ist ja niemand glücklich mit der Schule, wie sie jetzt ist", sagt Rasfeld. Die neuen Ansätze zeigen, dass es auch vollkommen anders gehen kann.

Offene Lerneinheiten

An der Evangelischen Schule Berlin Zentrum (ESBZ) zum Beispiel. An dieser Gemeinschaftsschule lernen Kinder im Alter von zehn bis 18 und 19, also bis zum Abitur. Es wird in Jahrgangsstufen unterrichtet, die drei Jahrgänge umfassen. Bestimmte Fächer wie Deutsch, Mathematik, Englisch und Gesellschaftslehre werden in sogenannten Lernbüros vermittelt. Das sind offene Lerneinheiten, in denen sich die Kinder und Jugendlichen den Stoff in kleinen Gruppen weitgehend selbst aneignen.

Die Lehrer sind dazu da, diesen Aneignungsprozess zu begleiten und zu unterstützen. Weil der Frontalunterricht wegfällt, haben sie auch Zeit dazu. Sie können sich zu den Gruppen setzen und erleben, wie sich einzelne Schüler den Stoff aneignen, wo sie Probleme haben oder besonders großes Interesse. Somit ist eine intensivere Auseinandersetzung mit den individuellen Potenzialen möglich. Ein persönliches Logbuch mit den Arbeitsplänen hilft Lehrern und Schülern, die Lernprozesse zu strukturieren.

Jeder Schüler hat einen persönlichen Tutor unter den Lehrern, mit dem er sich einmal in der Woche trifft, um alles zu besprechen, was dem Schüler wichtig ist. Margret Rasfeld nennt dies "Beziehungsarbeit". Eine gute Beziehung sei die Grundlage jedweden Lernens. Auch die Eltern sind stark in die Organisation der Schule eingebunden: Drei Stunden in der Woche müssen sie etwas für die ESBZ tun - und sie machen das gerne.

Sie streichen Klassenräume, bereiten Projekte vor und stehen anderen Eltern beratend zur Seite. Noten gibt es an der ESBZ nicht, zumindest drei Jahre lang nicht. Auch das ist ein weiterer Baustein, um Angst, Konkurrenzdenken und Leistungsdruck aus der Schule herauszuhalten. Statt auf Leistung konzentriert sich die ESBZ auf die Stärken und Poten-ziale ihrer Schüler.

Freiraum und Struktur

Susanne Kappl war von Anfang an begeistert. "Ich habe bei dem Konzept gesehen, dass sich Freiraum und Struktur nicht ausschließen," sagt die Direktorin der Volksschule in Allhartsberg in Niederösterreich. Sie hat das Konzept der ESBZ im Rahmen der "Schulqualität Allgemeinbildung" (SQA), wo Schulen unter anderem einen Entwicklungsplan vorlegen müssen, für die Bedürfnisse von Volksschulkindern adaptiert.

Gemeinsam mit ihrem Lehrerteam hat sie einen Plan entwickelt, der insbesondere die Vermittlung von Nachhaltigkeit, sozialen Kompetenzen und Eigenständigkeit in den Vordergrund stellt. Jetzt, nach nur knapp einem Jahr, erkennt sie die große Kraft, die mehr Selbstbestimmung bringt: "Es ist wirklich unglaublich, welches Potenzial Kinder entwickeln, wenn man ihnen etwas zutraut. Man sieht richtig wie sie wachsen, sobald sie merken, dass sie endlich einmal selbst bestimmen können, was sie wann tun."

In Allthartsberg lernen in Lernbüros schon die Kleinen in ihrem eigenen Tempo Mathematik und Deutsch. Sie folgen dabei Arbeitsplänen, die das Basiswissen der Volksschule abdecken. Sie arbeiten wie an der ESBZ eigenständig und können sich innerhalb der Schule auch aussuchen, wo sie das tun. Frontalunterricht gibt es nur selten.

Auch wenn nicht alle Kinder sofort mit der neuen Form des Lernens umgehen konnten, zeichnen sich jetzt die Erfolge ab. "Manche sind schon sehr früh mit dem Stoff eines Jahres fertig. Wir arbeiten dann mit ihnen weiter an ihren Begabungen und Interessen, damit sie ihr volles Potenzial entfalten können", berichtet Kappl. Wer etwa gut und gerne schreibt, kann diese Fähigkeiten vertiefen, wer stark in Mathematik ist, diese Kenntnisse weiter ausbauen.

Auch in Allhartsberg haben die Schüler einen persönlichen Tutor. Kappl hat die Erfahrung gemacht, dass diese Gespräche besonders wichtig sind, um die Selbstwahrnehmung der Kinder zu schulen. Sie werden durch die persönliche Begleitung und die Konzentration auf ihre Stärken auch in den Unterrichtsfächern besser, die nicht zu ihren Lieblingsfächern gehören. "Wenn die Lehrerin Tipps gibt und berät, wird das viel besser aufgenommen, als wenn man auf Defizite hinweist und von den Kindern verlangt, dass sie das üben müssen."

Soziale Kompetenz

An der ESBZ sind die Fächer "Verantwortung" und "Herausforderung" die beiden zentralen Instrumente, um die Schüler Verantwortung und Selbstwirksamkeit erfahren zu lassen. Ab der vierten Klasse bis zum Abitur suchen sich die Schüler Aufgaben im sozialen, ökologischen oder kreativen Bereich außerhalb der Schule in verschiedenen Einrichtungen. Sie haben dafür einen Nachmittag in der Woche bzw. bei der Herausforderung sogar drei Wochen nach den Sommerferien, während derer sie ausgestattet mit 150 Euro auf Erkundungsreise außerhalb Berlins gehen. In der Abiturstufe suchen sie sich eine interkulturelle Herausforderung für drei Monate - alles während der Schulzeit und als Teil des Lehrplans.

Auch in Allthartsberg wurden diese Elemente übernommen. "Leben lernen" heißt das Fach, in dem sich die Kinder mit sich selbst und der Gemeinschaft auseinandersetzen. Geht es in der ersten Klasse noch um Gefühle und ihre Artikulation, wendet sich die vierte Klasse Themen wie Toleranz und Demokratie zu. Es gibt einen Klassenrat, in dem diskutiert und gemeinsam entschieden wird. Die Schüler werden auch an der Organisation der Schule beteiligt. Sie planen Ausflüge und machen Führungen für Studierende, die die Schule immer zahlreicher besuchen. "Natürlich begleitet man als Lehrer die Kinder, aber sie werden so selbstinitiativ, das ist faszinierend", sagt Kappl.

Natürliches Lernen

Ähnliche Erfahrungen macht auch Karin Graf. An der LAIS.Schule in Klagenfurt wird nach dem Prinzip des natürlichen Lernens gearbeitet. Das Vorbild ist die russische Tekos-Schule in Gelendzhi am Schwarzen Meer, die 1994 vom Musiklehrer Michail Schetinin als Schulversuch gegründet wurde und heute Schüler aus aller Welt anzieht.

"Natürliches Lernen" ist kein Konzept im engeren Sinn, vielmehr ein Prinzip. Die Idee dahinter ist, dass Kinder, wenn sie sich die Welt aneignen, dieses ganz natürlich tun, in ihrem eigenen Tempo und offen für alles, inklusive Fehlern. Lässt man ihnen diesen Freiraum auch in der Schule, können sie sich auch schulische Inhalte aneignen. "Was wir vermitteln, ist Begeisterungsfähigkeit", sagt Karin Graf. "Wer begeistert ist, kann sich für alles interessieren und alles lernen." Die Tekos-Schule ist berühmt, weil es ihr mit diesem Prinzip gelingt, ihre Schüler innerhalb kürzester Zeit auf Universitätsniveau zu bringen - oder vielmehr erreichen die Schüler von sich aus dieses Niveau.

An der LAIS.Schule in Klagenfurt lernen die Kinder im Alter von drei bis neunzehn Jahren in den sogenannten Lerneinheiten in Gruppen von acht Schülern gemeinsam - es wird diskutiert, geübt und bereits Gelerntes geteilt. Wer etwas weiß, bringt es den anderen bei, Lösungswege werden erwogen, geprüft, vielleicht verworfen oder beibehalten. Ein zen-trales Instrument sind die Schaubilder, auf denen erarbeitete Erkenntnisse festgehalten und an andere Gruppen weitergegeben werden. Die Lehrer sind dazu da, den Lernprozess zu begleiten, Fachvokabular einzubringen, zu ergänzen, was fehlt, und dafür zu sorgen, dass die Schüler während der eineinhalbstündigen Lerneinheiten nicht vom Thema abkommen.

Auch Backen und Yoga

Nach dieser Methode lernen die Kinder alles - von Mathematik, Biologie, Sprachen über Kochen und Backen bis zu Karate und Yoga. "Die Lehrenden bei uns sind keine Wissensvermittler. Jede Lerngruppe hat einen Lernbegleiter, der den Rahmen vorgibt. Ein Großteil des Wissens kommt bereits von den Kindern, es wird selbst nachgeforscht in Büchern, im Internet, es wird ausprobiert und Situationen nachgespielt. Wir laden Experten ein und löchern sie mit Fragen", berichtet Graf. In zwei Jahren, so die Vision der LAIS.Schule, sollen die Schüler ihre Schule zu 95 Prozent selbst organisieren und verantworten: die Lernstruktur, Aufräumen, Gäste empfangen, Büro und Telefon, Garten, Kochen usw.

Prüfungen und Noten gibt es in der LAIS.Schule eigentlich nicht. Da aber die Schüler als Externisten Jahresprüfungen an einer anderen Schule ablegen müssen - die Kinder der LAIS.Schule sind alle zum häuslichen Unterricht angemeldet -, hat Karin Graf sie diese Prüfungen machen lassen. Auch als eine Art Test für sich selbst. Die Kinder waren begeistert, weil sie ihr Wissen unter Beweis stellen konnten. "Wir machen das jetzt so, dass wir immer die gesamte Jahresprüfung mit wechselnden Aufgaben machen lassen - so sehen die Kinder genau, wo sie stehen und wie sie sich weiterentwickeln."

Neue Ausbildung?

Karin Graf ist überzeugt, dass sich natürliches Lernen problemlos auch in die Regelschulen integrieren lässt. "Man muss es nur wollen." Das Problem an der Regelschule sei, dass sie das Wissen in Portionen aufteilt, die für eine Prüfung gelernt und anschließend wieder vergessen werden. "Auf diese Weise sind nie Zusammenhänge erkennbar und man lernt im Prinzip lediglich, die eine Lösung auf dem einen Lösungsweg zu reproduzieren, die der Lehrer schon vorgegeben hat. Man lernt nicht, eigenständig Lösungen zu finden."

Für Susanne Kappl beginnt das Problem bereits in der Ausbildung der Lehrer. "Es wird den Lehrern so viel Angst vor Fehlern gemacht. Damit nimmt man ihnen die Chance, ein Gespür für die Kinder zu entwickeln und sich darauf einzulassen. Sie kommen aus der PH und denken vor allem an das, was sie alles falsch machen könnten."

Kappl würde sich wünschen, dass die Pädagogischen Hochschulen umdenken und der Beziehungsarbeit mehr Raum geben. Auch bei der Beratung der Lehrenden selbst: "Ich kann doch die pädagogischen Qualitäten eines Lehrers in einer Freistunde viel besser erkennen als in einer konventionellen, wo er an der Tafel steht und abspult, was im Lehrbuch steht, oder nicht?"

Cathren Landsgesell, geboren 1970 in Münster,hat Soziologie und Germanistik studiert, ist seit 2009 bei der "Wiener Zeitung" und schreibt für die Beilagen.