Jürgen wohnte erst acht Wochen mit Karin zusammen, als es eines Morgens um halb zehn Uhr an der Tür klingelte. Er ahnte nicht, dass er an diesem Regen verhangenen Novembertag ein Stück seiner Erbschaft kennen lernen sollte.
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Jürgen öffnete die Tür und schaute in das ausdruckslose Gesicht eines Mannes, der ihm ein Schriftstück übergab und sich als Gerichtsvollzieher auswies. Karin hatte falsch geparkt, er wusste, dass sie das oft machte. Was er noch nicht wusste: Sie warf die Strafzettel kurzerhand weg und ignorierte die eingehenden Mahnungen. Nun stand der Gerichtsvollzieher vor der Tür, um den horrenden Betrag von 120 Euro einzufordern - für einmal Falschparken!
"Das ist aber verrückt!", werden Sie jetzt möglicherweise sagen. Sie haben selbstverständlich Recht. Seine Strafmandate nicht zu bezahlen, die Mahnungen zu ignorieren und es auf das Erscheinen des Gerichtsvollziehers ankommen zu lassen, ein solches Verhalten ist sicherlich verrückt. Das Problem ist nur, dass wir alle mehr oder weniger verrückt sind. Wir alle haben unsere seltsamen, abgründigen und schwer zu verstehenden Seiten. So wie Karin.
Diejenigen Dinge an einem Partner zu lieben, die wir mögen, ist leicht. Aber diejenigen Dinge zu lieben, die wir nicht mögen, das fällt uns erfahrungsgemäß schwer. Der Schlüssel hierzu heißt verstehen: Wenn wir begreifen, warum der Partner so ist, wie er ist. Wenn wir die Erbschaft erkennen, die wir in der Partnerschaft mit ihm gemacht haben.
Was ist die Erbschaft? Die Idee der Erbschaft ist sehr einfach: Unsere Eltern und ihre Art, die Welt zu sehen, üben gerade in einer Partnerschaft einen großen Einfluss auf uns aus. So bekommen wir in einer Beziehung immer eine recht umfangreiche Erbschaft mit. Denn der Partner bringt eben auch die gesamten Grundüberzeugungen, Traditionen und Werthaltung seiner Herkunftsfamilie mit in die Beziehung ein.
Doch damit nicht genug: Der Einfluss des Elternhauses geht noch viel tiefer. Die große Nähe in einer Partnerschaft aktiviert in uns die wichtigsten Erfahrungen, die wir in der Kindheit mit Bindungen gemacht haben. Und das sind für jeden von uns in der Regel drei verschiedene Bindungen.
Erstens die Beziehung zur Mutter. Sie ist in aller Regel die engste Verbindung eines Menschen, die ihn und sein Verhalten - vor allem in nahen Beziehungen - sehr stark beeinflusst.
Zweitens die Beziehung zum Vater. Diese Bindung ist oft weniger eng, sie hat aber gleichwohl einen großen Einfluss auf die Erbschaft. Buben lernen am Vorbild des Vaters, was es heißt, ein Mann zu sein. Mädchen, die sich mit ihrem Vater identifizieren können, lernen an diesem Vorbild, wie ein zukünftiger Mann sein sollte. Ja, sie lernen an diesem Vorbild sogar, wie ihr zukünftiger Mann aussehen könnte. Und wählen dann einen ähnlichen Mann.
Drittens erben wir auch noch die Beziehung der Eltern zueinander. Wie sind sie miteinander umgegangen? Liebevoll und zugewandt? Nörgelig und hämisch? Distanziert? Lachten sie gerne und viel miteinander? Die Beziehung unserer Eltern haben wir aus nächster Nähe erlebt. Sie ist deshalb die wichtigste Informationsquelle über die Liebe, die wir haben.
Diese drei Bindungserfahrungen aus unserer Kindheit und Jugend prägen uns und unser Verhalten in einer Partnerschaft. In einer Beziehung treffen die drei Bindungserfahrungen eines Mannes und die drei Bindungserfahrungen einer Frau aufeinander. Ganz schön unübersichtlich.
Zu sechst im Bett. Für das Konzept der Erbschaft haben unterschiedliche psychologische Richtungen unterschiedliche Begriffe geprägt. Am bekanntesten ist die Formulierung "Zu sechst im Bett" der amerikanischen Psychotherapeutin Nancy Wasserman Cocola. Damit ist gemeint, dass selbst in den intimsten Momenten eines Paares - also im Bett - immer noch vier weitere Personen sinnbildlich anwesend sind: Die Eltern der Frau und die Eltern des Mannes.
"Zu sechst im Bett" ist eine wirklich schöne Formulierung und eine ungemein hilfreiche Vorstellung für ein Paar. Der Glaube, dass sich in einer Partnerschaft zwei Menschen in Liebe begegnen, losgelöst von allen gesellschaftlichen Konventionen und losgelöst von familiären Bindungen und Prägungen, ist demnach eine Illusion. Eine Partnerschaft ist eine so enge Bindung, dass wir gar nicht anders können, als sie auf dem Hintergrund unserer frühen nahen Bindungen zu erleben.
Wenn wir das begriffen haben, dann wundert es uns nicht mehr, dass eine Beziehung ohne gelegentliche Probleme nicht zu haben ist, nicht ohne Missverständnisse und auch nicht ohne eine Vielzahl an unterschiedlichen Vorstellungen, wie Partnerschaft ist und wie sie nicht ist.
Von dieser Erbschaft spüren wir im tagtäglichen Umgang miteinander oft nur wenig. Wir hinterfragen das Verhalten des Partners nicht, wenn er sich wie erwartet verhält. Aufmerksam werden wir auf unsere Erbschaft in der Regel erst, wenn das Verhalten des Partners für uns unangenehme Folgen hat.
Was kann Jürgen tun? Einen Gerichtsvollzieher vor der Tür stehen zu haben, zusätzlich zu der fälligen Ordnungswidrigkeit auch noch Mahn- und Zustellgebühren zu bezahlen - all das ist ohne Zweifel eine Folge für Jürgen und sein Leben.
Jürgen hat dem Gerichtsvollzieher 120 Euro gegeben und sitzt unterdessen wieder in der Küche. Er hat sich noch einen Kaffee eingegossen und ist immer noch völlig durcheinander von der Begegnung mit dem Gerichtsvollzieher. "120 Euro! So viel Geld! Was um alles in der Welt hat sich Karin dabei gedacht?" Jürgen ist verärgert. Was soll er jetzt tun?
Die Konfrontation suchen. Jürgen könnte Karin anrufen und sie zur Rede stellen. Das Ergebnis ist absehbar. Karin wird, wenn sie angegriffen wird, nicht mit Einsicht reagieren, sondern mit Verteidigung. Und wenn Jürgen wütend auf sie ist, dann wird Karin ebenfalls mit Wut reagieren.
Das Problem ausdiskutieren. Jürgen könnte Karin erklären, dass ihr Verhalten falsch ist. Er könnte ihr sagen, dass es billiger ist, Strafmandate gleich zu bezahlen. Kurz: Er könnte das Problem mit ihr ausdiskutieren. Das rationale Argumentieren ist letztendlich eine indirekte Form des Kritisierens.
Ihr das Problem schildern. "Heute morgen stand der Gerichtsvollzieher vor der Tür", könnte Jürgen das Gespräch mit Karin beginnen. "Du hast ein Strafmandat nicht bezahlt." Und dann könnte er warten, wie Karin auf diesen Satz reagiert.
Karin um Rat fragen. Jürgen könnte die 120 Euro von Karin einfordern. Doch das ist für die Zukunft keine Lösung. Karin ist nämlich schwanger und seit zwei Wochen im Mutterschutz. Bald bekommt sie nur noch 300 Euro Elterngeld. Gerichtsvollzieher können Jürgen und Karin auf absehbare Zeit nur noch von seinem Gehalt bezahlen. Und damit hat er ein Problem. "Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll", könnte Jürgen zu Karin sagen. "Weißt du einen Rat?"
Die Erbschaft kennen lernen. Aus psychologischer Sicht ist das, was Karin gemacht hat, weder richtig noch falsch. Es ist erklärungsbedürftig. Es ruft nach der Frage: Warum? Warum wirft Karin Strafmandate einfach so in den Müll und die Mahnungen, wenn sie eintrudeln, ebenfalls? Überraschende und ungewöhnliche Handlungen des Partners sind oft zu verstehen, wenn wir uns darum bemühen. Dazu müssen wir allerdings seine Biografie genau kennen.
Thomas hat Jürgen zu einem Gespräch über Karins Verhältnis zu ihren Eltern geraten. Jürgen hat sich für diese Unterhaltung einen ruhigen Abend ausgesucht. Jürgen hat gekocht, die Kerzen auf den Tisch gestellt und Karins Lieblingswein besorgt. Nach seinem Gespräch mit Karin wusste Jürgen mehr über seine Erbschaft. Er wusste, dass Karins Mutter eine impulsive Frau war, die dazu neigte, alle Polizisten für Idioten und Politessen für überflüssig zu halten - was sie ihnen auch unverhohlen mitteilte. Er wusste auch, dass Karins Vater ein sehr beherrschter, pflichtbewusster, ja pedantischer Mann war. So pflichtbewusst und pedantisch, dass seiner Tochter gar nichts anderes übrig blieb, als sich Gegenstrategien zu überlegen. Die reichten von einer beeindruckenden Unordnung in ihrem Zimmer über große Schwierigkeiten mit der Pünktlichkeit bis hin zu Autoritätskonflikten, die Karin seinerzeit vor allem bei ihren lautstarken Auseinandersetzungen mit Lehrern auslebte.
Die Erbschaft annehmen. Was aber macht Jürgen nun? Wie wird er mit seiner Erbschaft umgehen? Wir alle wissen, wie es sich mit Erbschaften verhält: Wir können sie annehmen oder wir können sie ablehnen. Dazwischen gibt es leider nichts. Karins zupackende Art und ihre Lebensfreude nehme ich gerne, aber ihre Strafmandate bezahlt sie in Zukunft gefälligst auf der Stelle - so funktioniert Partnerschaft nicht. Rosinen picken ist nicht möglich. Einen Partner können wir uns nicht backen.
Bewahren Sie sich Ihre Neugier. Um Ihre Erbschaft kennen zu lernen, brauchen Sie vor allem eines: Neugier. Die Neugier auf den anderen ist zu Beginn einer Partnerschaft ein wichtiger Motor der Annäherung. Wer frisch verliebt ist, der redet bis tief in die Nacht und fühlt sich dem anderen nahe. Kein Wunder, bei so viel Interesse am Partner und seinem Leben. Allerdings sehen wir in dieser Phase der Liebe mehr die Gemeinsamkeiten, die uns mit dem anderen verbinden. Unterschiede? Gibt es nicht.
Dass der andere auch anders ist, registrieren die meisten Menschen erst später, wenn die Verliebtheit nachlässt - und reagieren mit Unmut darauf. Ihre Neugier auf den Partner, der - scheinbar - so ähnlich war wie sie selbst, war groß. Ihre Neugier auf den Partner, der doch ganz anders ist, verfliegt. Dabei brauchen Sie gerade jetzt das Interesse am Partner mehr denn je.
"Paare verbringen Jahre damit, den anderen von etwas zu überzeugen. Aber das ist nicht möglich", sagt der amerikanische Psychologe und Paartherapeut John M. Gottman. Und dann fährt er fort mit einem Satz, den sich jeder Liebende ins Portemonnaie stecken sollte, in das Fach, in dem üblicherweise das Foto des oder der Angebeteten steckt: Der andere möchte nicht überzeugt werden. Er möchte verstanden werden.