Gesellschaften lernen nicht aus Vorsätzen, sondern aus Folgen - was genau, zeigt sich erst hinterher. Soziologische Betrachtungen zur gegenwärtige Lage.
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Der französische Präsident Emmanuel Macron war der Erste, der im Zusammenhang mit der Corona-Krise die Kriegsmetapher gebrauchte. Wobei er es gar nicht als Metapher meinte, als er in einer Fernsehrede davon sprach, dass Frankreich im Krieg gegen einen "unsichtbaren Feind" stehe, daher eine Art Generalmobilmachung all seiner Kräfte vorzunehmen habe.
Angeblich hat Macron in letzter Zeit viel in den Schriften von Charles de Gaulle und des Kriegshelden Georges Clemenceau gelesen, weshalb ihm vor allem deutsche Kritiker sogleich einen allzu martialischen Sprachgebrauch vorwarfen.
Macron blieb aber nicht der Einzige, der den derzeitigen Ausnahmezustand bellizistisch beschreibt (in seiner Rede kam "Krieg" gleich sechsmal vor, u.a. auch als "Krieg um die Gesundheit"). Neben Donald Trump, der den Ausdruck erwartungsgemäß bereitwillig aufnahm, fanden sich weitere Politiker und Publizisten, die nicht nur ihre jeweilige Nation, sondern die Weltgesellschaft als Ganze auf dem Kriegspfad wähnen. Und sie treffen damit einen wahren Kern - aber eben doch eher metaphorisch.
Im Jahr 1992 ist von Karl Otto Hondrich (1937-2007) ein kleines Büchlein mit dem Titel "Lehrmeister Krieg" erschienen (in Rowohlts "rororo-aktuell"-Serie), in dem der deutsche Soziologe zeigt, wie elementar die kollektiven Lernerfahrungen sind, die jede Gesellschaft aus kriegerischen Auseinandersetzungen zieht. Aus Anlass des ersten Golfkriegs geschrieben, enthält der Essay indes weit darüber hinaus gehende Schlussfolgerungen und Erkenntnisse. Die zentrale These Hondrichs lautet: "Der Sinn des Krieges: Kollektives Lernen wider Willen." Denn: "So groß ihr Lernbedarf auch sein mag, Gesellschaften lernen nur wider Willen."
Damit widerspricht Hondrich dem Selbstbild aufgeklärter Gesellschaften, wonach soziales Lernen aus freien Stücken und edlen Motiven erfolge. Erfahrung und Empirie zeigen das Gegenteil: Wir lernen nicht aus Vorsätzen, sondern aus Folgen.
"Gesellschaften lernen durch Versuch, Scheitern und Korrektur ihrer kollektiven Vorstellungen. Lernen tut weh, deshalb wollen Gesellschaften nicht lernen, am wenigsten im Krieg. (...) Trotzdem, er bricht Lernblockaden, zwingt zum Lernen wider Willen." Und: "Erst wenn kollektive Vorstellungen aus ihren gefühlsmäßigen Verankerungen gerissen werden - und nicht aufgrund ra-tionaler Erwägungen -, ist der Boden bereitet für ein Lernen, das Gesellschaften in der Tiefe bewegt."
Mit diesem Befund sind wir in der Gegenwart angekommen, denn der derzeitige Zustand, ob man ihn nun als Krieg oder anders nennen will, ist jedenfalls dadurch gekennzeichnet, dass wir zum Lernen wider Willen gezwungen sind. Wir müssen mit der Lage, die in dieser Radikalität kaum jemand vorhergesehen hat (außer Bill Gates, der schon vor fünf Jahren vor einer weltweiten viralen Pandemie warnte, und ein paar Experten, auf die niemand hörte), zurechtzukommen lernen. Von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag. Was dabei herauskommen wird, ist unbekannt.
Denn, auch das hat Karl Otto Hondrich unmissverständlich klargemacht: "Was jeder einzelne Krieg lehrt, ist nicht vorhersehbar." Wir kennen die Folgen unseres derzeitigen Handelns (und Nicht-Handelns) nicht. Wir können sie da oder dort bestenfalls erahnen, worum sich die Zunft der Zukunftsdeuter bemüht.
Schöne neue Welt?
Allen voran Matthias Horx, der in einer flott verfertigten Vorausschau auf "Die Welt nach Corona" schon heute erkennen mag, worüber wir uns dann (er spricht von September 2020) im Rückblick wundern werden: "Wir werden uns wundern, dass die sozialen Verzichte, die wir leisten mussten, selten zu Vereinsamung führten. Im Gegenteil. Nach einer ersten Schockstarre fühlten viele sich sogar erleichtert, dass das viele Rennen, Reden, Kommunizieren auf Multikanälen plötzlich zu einem Halt kam. Verzichte müssen nicht unbedingt Verlust bedeuten, sondern können sogar neue Möglichkeitsräume eröffnen. (...) Paradoxerweise erzeugte die körperliche Distanz, die der Virus erzwang, gleichzeitig neue Nähe. Wir haben Menschen kennengelernt, die wir sonst nie kennengelernt hätten. Wir haben alte Freunde wieder häufiger kontaktiert, Bindungen verstärkt, die lose und locker geworden waren. Familien, Nachbarn, Freunde sind näher gerückt und haben bisweilen sogar verborgene Konflikte gelöst. Die gesellschaftliche Höflichkeit, die wir vorher zunehmend vermissten, stieg an."
Schön, wenn es so kommt. Man kann sich über so viel Optimismus aber auch schon heute wundern. Diese Vision ist allenfalls eine Zwischenbilanz einiger Erfahrungen der ersten Tage und Wochen, die uns die verordnete Selbstisolation verschafft. Ob das so bleibt, ist ungewiss. Es kann auch ganz anders kommen. Die Zuversicht erinnert ein wenig an die Phase der "Willkommenskultur" zu Beginn der Flüchtlingskrise 2015, die - wie wir heute wissen - etwas ganz anderes als freudige Aufnahmebereitschaft zur Folge hatte, nämlich einen massiv verstärkten Rechtspopulismus (der sich, wie in unserem Land, nur durch Selbstzerstörung in seiner Macht beschränkte; jedenfalls nicht durch politische oder moralische Kritik).
Das Eigene rückt näher
Dass Gesellschaften das Eigene vor dem Fremden präferieren, ist ein weiterer sozialer Tatbestand, den man bei Karl Otto Hondrich hätte lernen können. Er unterschied fünf elementare soziale Prozesse, die in allen Kulturen gelten und daher so etwas wie Naturgesetze des Sozialen darstellen, wozu u.a. der Prozess des Auf- und Abwertens zählt, also auch des Präferierens des jeweils Eigenen, was Nächstenliebe zwar keineswegs ausschließt, aber doch begrenzt.
Diese soziale Tatsache zeigt sich auch jetzt, wenn - trotz weltumspannender Bedrohung durch das Coronavirus - die eigene Gesellschaft, die eigene Nation, die eigene Region und vor allem die eigene Familie im Zentrum der Sorge steht. Nicht die Europäische Union, und schon gar kein Weltstaat (von dem heute sowieso kaum noch wer träumt) gibt die Regeln vor. Es ist der Nationalstaat, der seine Bevölkerung nun so gut wie möglich zu schützen versucht. Und alle atmen auf - zumindest dort, wo ein solcher, wie hierzulande, auch funktioniert.
In Österreich, auch das ist eine Erfahrung dieser Krise, ist der Bund ein gestärkter Garant für Sicherheit, nicht die Länder, deren politische Eigenwilligkeit man eher fürchten muss (wie vor allem die desaströsen medialen Auftritte Tiroler Landespolitiker gezeigt haben). Und nebenbei erweist sich auch das im internationalen Vergleich erstaunlich niedrige Durchschnittsalter unserer Bundesregierung möglicherweise als Vorteil in diesen kritischen Tagen. Ganz anders wie etwa im Iran, in Indien oder den USA, wo ausgerechnet Kandidaten im Hochrisikoalter in eine Wahl ziehen, von der derzeit niemand sagen kann, ob sie heuer überhaupt stattfinden kann.
Auch wenn wir derzeit nicht wissen können, welche Folgen die Corona-Krise auf unser nachmaliges Zusammenleben, auf unsere Werte und Machtverhältnisse haben wird, so können wir natürlich bereits einige Veränderungen in unserer unmittelbaren Gegenwart (und Umgebung) erkennen. Wir lernen auch jetzt schon - wie nachhaltig, bleibt freilich offen.
Wir lernen zum Beispiel, und darin ist Matthias Horx beizupflichten (der vielleicht ein besserer Zeitdiagnostiker als Zukunftsforscher ist), dass solch ein "Herunterfahren" von Aktivitäten, zu dem wir nunmehr gezwungen sind, auch als Gewinn erlebt werden kann, als eine willkommene Ruhepause. Das "überforderte Selbst", der einstige Befund eines anderen Soziologen, des Franzosen Alain Ehrenberg, hat in diesen Tagen die Chance, einiges an Ballast abzuwerfen und die habituelle Entscheidungsschwäche dadurch zu überwinden, dass es nicht mehr viel selbst zu entscheiden hat (weil es einem von anderen - Politikern, Ärzten etc. - abgenommen wird).
Es ist eine der vielen Paradoxien: Auf sich selbst zurückgeworfen, wird das Selbst von vielen Erwartungen an sich selbst entlastet. Und auch von der Überzahl an Angeboten: Die bleiben allenfalls im Supermarkt oder bei der Auswahl von TV-Programmen erhalten, aber nicht mehr auf Schritt und Tritt in allen Lebensbereichen.
Apropos TV-Programme: Auch da gibt es deutliche Veränderungen - mit klaren Gewinnern (und Verlierern). Ausgerechnet das gute alte lineare Fernsehen, dem längst der Tod prophezeit worden war (fälschlich, da es noch immer genügend, vor allem ältere Menschen praktizieren), ist plötzlich wieder mediale Kulturtechnik Nummer eins und selbst bei Jüngeren beliebt, die dafür längst verloren schienen. Informationssendungen wie "Zeit im Bild" (ORF) haben Quoten, wie es sie seit Jahrzehnten nicht mehr gab.
Nerds als Avantgarde
Die generelle Renaissance klassischer Medien kommt auch dem Rundfunk und (uns) Zeitungen zugute, an denen derart reges Interesse besteht, wie das im Internetzeitalter für unmöglich gehalten worden war. Dabei ist das Internet keineswegs der Verlierer, ganz im Gegenteil. Was für ein Segen, dass wir es haben.
Die viel gedemütigten Computer-Nerds, die schon immer einen Großteil ihrer Zeit vor dem Bildschirm verbrachten, waren einfach nur ihrer Zeit voraus, im Sinne einer Avantgarde, denn nun kopieren wir alle ihr Verhalten. Und sind froh, dass es sie gibt, damit sie rasch Netzverbindungen herstellen, neue Programme schreiben, Video-Konferenzen in-stallieren, Informationen suchen und Tipps im Umgang mit bockigen Rechnern geben können. Sie sind - neben Pflegern, Helfern, Supermarktkassiererinnen, Regalschlichtern, Apothekern - die wahren Helden dieser Zeit. An diese neue soziale Bewertung wird man gegebenenfalls erinnern müssen, wenn sich zukünftig wieder deutlich weniger relevante Berufsgruppen im Ranking nach oben schwindeln.
Mediale Verlierer gibt es aber auch: etwa Spartenkanäle, vor allem Sportsender. Durch den Zusammenbruch jeglichen sportlichen Geschehens fehlt diesen TV-Programmen die Existenzgrundlage. Mit ständigen Wiederholungen von Fußballspielen oder ehemaligen Tour-de-France-Etappen wird man wohl nicht lange über die Runden kommen.
Abzuwarten bleibt, wie sich der tägliche Report realer und horribler Todeszahlen auf die Dauerbewirtschaftung der TV-Sender mit Kriminalfilmen und -serien auswirken wird. Ein Medienwissenschafter hat einmal zusammengezählt, wie viele fiktive Leichen dem deutschsprachigen Zuseher an einem Abend in allen Kanälen durchschnittlich "serviert" werden. Es war eine stattliche zweistellige Zahl. Jetzt, wo wir deutlich höhere reale Todesziffern ins Haus geliefert bekommen, müssen wir uns ernsthaft und realistisch fürchten, nicht nur unterhaltsam gruseln.
Wobei die täglichen Zahlen und ihre mediale Aufbereitung wiederum eine Realität ganz eigener Art darstellen. Sie machen uns mit etwas vertraut, worauf der deutsche Soziologe Armin Nassehi in seinem jüngsten Buch, "Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft" (C.H. Beck 2019), hinweist: die grundsätzliche Berechenbarkeit von Gesellschaft(en).
Deshalb gehören neben der erstaunlichen Vielzahl an Virologen und Infektiologen (wo waren die alle zuvor, fragt man sich) auch Mathematiker und Sozialstatistiker zu den Dauergästen in Info-Sendungen und TV-Talks. Sie gehören zum erlesenen Kreis derjenigen, die von der rasanten Ausbreitung dieser Pandemie am wenigsten überrascht wurden. Schon nach den ersten Corona-Fällen in Europa haben sie Verlaufskurven errechnet, die steil nach oben wiesen - und die von vielen Entscheidern für übertrieben gehalten bzw. ganz ignoriert wurden. Nun zeigt sich, dass es ziemlich genau so kam, wie sie es früh dargestellt hatten - teils sogar noch schlimmer.
Mathematik-Nachhilfe
Da Mathematik und Statistik nicht zu den Lieblingsgegenständen der Österreicher zählen (und damit sind wir sicher nicht die Einzigen), war auch mit dem überraschten Entsetzen zu rechnen, mit dem wir nun alle auf das Voraussehbare (und Berechenbare) reagieren. Es gibt jetzt einen Schnellkursus in angewandter Bevölkerungsmathematik, eine rapide Nachhilfe in Echtzeit. Wir sollten daher auch künftig mehr auf Zahlenwissenschafter hören als auf sonstige, oftmals spekulative Prognostiker, wenn es um die Verflachung von Ansteckungshäufungen und Rückgänge von Erkrankten geht (oder eben nicht).
Oft wenig tröstlich, liegt in diesen dürren Daten noch die größte Hoffnung (weil berechtigte Wahrscheinlichkeit).
Gerne gebe ich zu, dass es verführerisch ist, in das derzeitige Geschehen einen höheren Sinn hineinzudeuten. Religiös Inspirierte sehen darin, wenig überraschend, die Handschrift Gottes (aber wieso war der bisher so zurückhaltend?); viele ökologisch Bewegte (und das sollten wir ja bekanntlich alle sein) sehen eine Art von Weltgeist im Verbund mit dem Virus obwalten, um der geknechteten Schöpfung eine Atempause zu verschaffen - was ja auch funktioniert, denn Luft und Wasser erholen sich in diesen wenigen Wochen des globalen Stillstands bereits erheblich. Und auch Pflanzen und Tieren geht es besser..
Wo sich mir, in einem vergleichsweise peripheren und weltpolitisch unbedeutenden Bereich, ein Verdacht von Lenkungsmacht geradezu aufdrängt, ist ausgerechnet der Fußball. Und zwar der deutsche. Da war in den letzten Wochen eine derart aufgeheizte Stimmung zwischen Fangruppen (hauptsächlich Ultras), diversen Vereinen und der Bundesliga in die Stadien eingezogen, dass mehrfach Spielabbrüche in der Luft lagen - und niemand wusste, wie die Situation zu deeskalieren wäre, damit ein geordneter Spielbetrieb weiterhin gesichert ist.
Gott im Stadion?
Und zack, zack, zack war mit einem Schlag alles anders, weil aus ganz anderen Gründen nicht mehr gespielt werden konnte. Daher können sich die erhitzten Gemüter (es geht ihnen - an der Oberfläche - um "authentischen" versus "kommerzialisierten" Fußball; in der Tiefe aber wohl um Lust an der Randale) vorerst einmal beruhigen: Es gibt nun gar keine Art von Fußball mehr. Allenfalls "Geisterspiele", bei denen sich das Problem mit den Fans indes auch nicht stellt.
Da dachte ich wirklich kurz: Das ist eine höhere Fügung. Da hat eine Art Oberschiedsrichter korrigierend eingegriffen, indem er andere Player aufs Feld schickte. Bekanntlich sind Viren (generell, nicht nur Corona) keine Lebewesen, sondern pure - in Eiweißhüllen verpackte - Informationen. So gesehen könnte man im derzeitigen globalen Geschehen, weniger spirituell aufgeladen, auch einen Kampf, von mir aus: Krieg um Information in Form von biologischer Umprogrammierung am Werke sehen.
Aber bevor wir uns zu sehr versteigen, folgen wir lieber einem weiteren Soziologen (dem letzten, versprochen!), nämlich Harald Welzer, in seiner Einschätzung, dass wir doch etwas gelernt haben - zumindest im Rückblick auf frühere Zeiten. Ein Massensterben wird heute nicht mehr einfach hingenommen oder gar gefördert, wie in brutalen Kriegen oder im NS-Staat, sondern von allen Ländern weltweit mit allen verfügbaren Mitteln (so gering und untauglich diese auch sein mögen) bekämpft. Darin kann, nein, darin muss man einen zivilisatorischen Fortschritt erkennen.
Und wenn es einen selbst schlimm erwischen sollte, wird man vielleicht ähnlich disparate Erfahrungen machen wie Karl Otto Hondrich, der 2007 an einer Krebserkrankung verstarb, wovon der Schriftsteller Navid Kermani berichtet: "Er war identisch mit sich auch im Bewusstsein, dass niemand identisch ist mit sich, und nüchtern genug, um vorauszusehen, dass die Nüchternheit nicht aufrechtzuerhalten sein würde. Am Ende wimmerst du. Aller Realismus hilft nicht, die Realität zu ertragen."
Gerald Schmickl, geboren 1961 in Wien, hat Soziologie studiert, ist redaktioneller Leiter der "extra"-Beilage und Schriftsteller (zuletzt erschien der Essayband "Lob der Leichtigkeit").