Cultrain zeigt jungen Afghanen, wie Österreichs soziales Gefüge funktioniert.
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Wien. Was macht österreichische Werte aus? Mit Messer und Gabel korrekt ein Schnitzel zu essen, der alten Frau in der Straßenbahn den Sitzplatz zu überlassen? Seine Arbeitsrechte zu kennen?
Der Verein CulTrain versucht seit heuer auch in Wien jugendlichen Flüchtlingen ein österreichisches Gefühl für solche Fragen zu vermitteln. Am Wochenende pilgern afghanische Jugendliche in das Haus in der Nibelungengasse, um sich österreichische Kultur einzuverleiben.
Die Internationale Organisation für Migration (IOM) hat mit CulTrain ein spezielles Trainingsprogramm entwickelt, um jungen Flüchtlingen zu helfen, sich in einer fremden Kultur zurechtzufinden. Projektkoordinatorin Katharina Benedetter und Projektassistentin Marianne Dobner erzählen von ihren Aufgaben und Erfahrungen mit den jungen Menschen.
Einer der Punkte des Trainings ist, frei nach Bruno Kreisky, die österreichische Geschichte zu lernen. "Für viele unserer Teilnehmer ist die Geschichte des 20. Jahrhunderts sehr interessant", sagt Trainerin Katharina Benedetter. Insbesondere die Nachkriegszeit ist ein großes Thema. "Wenn man sich die afghanische Geschichte mit der Sowjetunion (Anm.: Kriegsdauer von 1979 bis 1989, bis zu zwei Millionen tote Zivilisten) sowie den USA ansieht, ist es für die Minderjährigen spannend zu sehen, dass es auch hier Krieg und eine Besatzungszeit gegeben hat. Das heißt, es macht ihnen Mut, dass Österreich nach dem Krieg gewachsen und geworden ist, wie es jetzt ist", sagt Marianne Dobner.
Kein homogenes Bild
Obwohl es nach Schulunterricht klingt, ist das Projekt CulTrain davon entfernt, ein steifer Vortrag über österreichische Gepflogenheiten zu sein. Man bedient sich bei der Vermittlung der Inhalte verschiedenster Instrumente. Insbesondere Rollenspiele sollen dazu beitragen, lebensnahe Situationen zu erfahren. Wie verhält man sich als Gast, wenn man viel zu spät kommt? Wie beim Ein- und Aussteigen bei den öffentlichen Verkehrsmitteln? Was bedeuten die Schilder in der Straßenbahn? Was gilt als höflich oder unhöflich?
"Wir vermitteln kein Bild von einem einheitlichen Österreich und wollen nicht moralisierend wirken", betont Dobner. "Wir zeigen zum Beispiel, dass es in Österreich mehrere gängige Familienbilder gibt. Die traditionelle sowie die Patchwork-Familie. Oder auch gleichgeschlechtliche Paare. Es ist in Ordnung, gegenteilige Einstellungen zu haben, aber bestimmte Formen sind mit Respekt zu behandeln, weil sie hier erlaubt sind. Das bringen wir den Jugendlichen bei."
Den Vorwurf, Flüchtlingen zu zeigen, wie man "österreichisch" zu sein hat, lassen Benedetter und Dobner nicht gelten. "CulTrain ist sehr darauf bedacht, eben kein homogenes Bild von Österreich zu zeichnen. Die Themen werden differenziert behandelt, denn es gibt nicht nur das eine Österreich. Wir zeigen natürlich regionale und soziale Unterschiede auf", stellt Dobner klar und Benedetter fügt hinzu: "Wir pochen stark darauf, dass es Meinungsvielfalt gibt. Allein schon deswegen kann man uns eine Normung der Jugendlichen nicht vorwerfen."
Berührungsängste
Den Jugendlichen ist selbstverständlich klar, dass Situationen im Alltag nicht immer so laufen können wie im Training. Insbesondere die Gastfreundschaft der Österreicher ist etwas, das bei den afghanischen Jugendlichen teils für Verwunderung sorgt. "Das beliebte Sprichwort in Österreich, bei Gästen freut man sich immer zweimal: einmal, wenn sie kommen, und einmal, wenn sie gehen, finden die Jugendlichen einerseits lustig, aber auch schockierend. Sie haben da ähnliche Erfahrungen gemacht", sagt Benedetter.
Die größten Probleme allerdings haben die Minderjährigen beim Kennenlernen von Einheimischen. Berührungsängste sind dabei das größte Hindernis. "Im Juni wird es deshalb ein interkulturelles Event mit österreichischen Jugendorganisationen geben. Es ist eine Art angeleitetes Kennenlernen. In Zukunft werden wir mit der ,young Caritas‘ und den Pfadfindern eng zusammenarbeiten, um die Möglichkeit zu intensivieren, Bekanntschaften zu schließen", erklärt Benedetter die neue Strategie.
Ob CulTrain auch nächstes Jahr Trainingseinheiten anbietet, steht noch nicht fest. Fördermittel werden erst ab Herbst vergeben. "Wir können nur ein Folgeprojekt einreichen und auf das Beste hoffen", sagt Benedetter. "Der Zulauf ist gut. Die Kurse werden heuer noch bis Dezember angeboten."
Wissen
Die IOM wurde 1951 gegründet und besteht aus 149 Mitgliedsstaaten. Sie verpflichten sich dem IOM-Prinzip, "dass menschenwürdige und geregelte Migration den MigrantInnen und den Gesellschaften zugutekommt".
Das IOM-Programm CulTrain wurde 2012 in Österreich gegründet und im selben Jahr für den Integrationspreis in Steyr vorgeschlagen. Teilnehmen an den kulturellen Orientierungstrainings dürfen: unbegleitete minderjährige Flüchtlinge zwischen 15 und 22 Jahren, Asylberechtigte (§3) oder Subsidiär Schutzberechtigte (§8) und Ausländer mit Deutschkenntnissen ab A1 Niveau. Die Trainingstermine werden auf der CulTrain-Facebookseite veröffentlicht. Die Trainings finden in Wien, Niederösterreich, Oberösterreich und Salzburg statt. Die Jugendlichen können sich direkt anmelden oder der/die BetreuerIn übernimmt das Anmeldeprozedere.
Das Projekt CulTrain wird durch den Europäischen Flüchtlingsfonds und das Innenministerium kofinanziert.