Noch nie gab es so viele Abmeldungen von öffentlichen Schulen. Mit Covid alleine lässt sich das bei weitem nicht erklären.
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Es ging nicht um die Schule, es ging um die geplante Ausweitung der täglichen Höchstarbeitszeit: Bei einer Veranstaltung der Akademie der Wissenschaften in Wien bekannten Unternehmer ein, dass sie bereits jetzt Mitarbeiter länger als gesetzlich erlaubt arbeiten lassen, aber in die offiziellen Arbeitszeitlisten nur die gesetzlich erlaubte Höchststundenzahl eintragen.
Auch in den Klassen innovativer Schulen, die gesetzwidrige Stundenstrukturen praktizieren, hängen oft zwei Stundenpläne übereinander: der offizielle und der tatsächlich gelebte. Je nach dem, wer die besucht - ein Organ der Schulobrigkeit oder ein Innovationssucher und -bewunderer -, hängt der eine oder der andere Stundenplan zuoberst. Den Kindern schärft die hochengagierte, innovationsfreudige Lehrperson ein, niemandem etwas davon zu erzählen. Aber ist die Schule nicht per Bundesverfassung eine Einrichtung, die der Vermittlung des Wahren, Guten und Schönen verpflichtet ist?
Getürkte Stundenaufzeichnungen in Firmen, illegale doppelte Stundenpläne in Schulen? "Ja, es gibt in Österreich nahezu flächendeckend einen gewissen Gap, also eine Kluft zwischen Formalverfassung und Realverfassung, zwischen den gesetzlichen Bestimmungen und der tatsächlich gelebten Wirklichkeit", hat ein renommierter Arbeits- und Sozialwissenschafter festgestellt. "Doch in keinem Bereich ist dieser Gap so tief wie im Bildungssystem."
Das bedeutet, dass in Österreichs Bildungssystem gelogen wird wie in keinem anderen Bereich. Die "gute" Nachricht: Zu 99 Prozent handelt es sich um Notlügen, die oft zum Nutzen der Schüler riskiert werden. Woher kommt diese "Not"? Sie entsteht kurz gesagt dadurch, dass wir alle notgedrungen im 21. Jahrhundert leben, unsere Strukturen aber teils ein Vierteljahrtausend alt sind und in anderer Zeit für andere Menschen und für andere Zwecke geschaffen wurden.
Was hat dieser kreative Umgang mit der Wahrheit nun mit der explodierenden Zahl der Schulabmeldungen zu tun? Es mag bizarr klingen, doch im Grunde sind diese Abmeldungen zu einem vermutlich hohen Prozentsatz verantwortungsvolle Reaktionen orientierter und besorgter Eltern auf das teilweise Versagen von Österreichs öffentlichen Schulen. Ja, es gibt Traumschulen in Österreich. Landen die eigenen Kinder in einer solchen, dann hat man eben Glück gehabt.
Doch finden sich Volksschulkinder für vier Jahre (!) in der Klasse einer Lehrperson wieder, die mit der Klassenführung disziplinär in einem Ausmaß überfordert ist, dass kaum lehrplanmäßiger Unterricht stattfinden kann, die fortbildungsresistent ist und gar nicht auf den Gedanken kommt, dass das Chaos in der Klasse durch ihr eigenes Tun ausgelöst oder zumindest begünstigt wird, dann hat das Schicksal unbarmherzig zugeschlagen. Viele Kinder aus solchen Klassen lesen nach vier Volksschuljahren stockend und weisen Defizite auch in anderen Bereichen auf.
Das Aufholen dieser Defizite gelingt meist nur, wenn sich die Eltern sehr zeitintensiv um ihre Kinder bemühen und ihnen eine positive Arbeitshaltung vermitteln, die in Problemklassen oft auf der Strecke bleibt. Das große Verhängnis ist, dass viele Eltern - besonders solche von "Erstkindern" - dieses Versagen der Schule oft jahrelang gar nicht registrieren, weil ihnen Erfahrung und Vergleichsmöglichkeiten fehlen und Problemlehrpersonen gegenüber den Eltern als Selbstschutz meist so tun, als sei mit den Kindern leistungsmäßig alles in bester Ordnung.
Ist die Schule chronisch krank?
Ist dies Lehrer-Bashing? Nein - das sind vielfach belegte Fakten. Auf Probleme mit der Unterrichtsqualität wurde bereits in den 1980ern vom Wiener Institut für höhere Studien angesichts eines Absinkens der Lese-, Schreib- und Rechenkompetenz hingewiesen. Um die Jahrtausendwende wurden Arbeiten publiziert, in denen festgestellt wurde, dass von einer 50-minütigen Unterrichtsstunde durchschnittlich nur rund 25 Minuten für den eigentlichen Fachunterricht zur Verfügung standen und der große Rest zum "Herstellen eines konstruktiven Unterrichtsklimas" benötigt wurde.
Dann 2014 der Hilfeschrei der Lehrergewerkschaft: Eine von ihr initiierte Studie machte deutlich, dass im Pflichtschulbereich die Mehrheit der Lehrpersonen eingestand, dass ihr Unterricht vorwiegend scheiterte. Doch dieser Hilferuf blieb leider ungehört. Da mutet es ja geradezu erfreulich an, dass im Bundesschnitt "nur" rund 40 Prozent der Pflichtschulabgänger Probleme mit dem Lesen Schreiben und Rechnen haben. Vermutlich wäre dieser Prozentsatz noch höher, würden nicht viele engagierte Eltern das teilweise Versagen des Unterrichts durch eigenes Bemühen um die Kinder kompensieren.
Notlügen allerorten. Gibt es eine Community, die sich beim Thema Schule nicht der Kulturtechnik des Lügens bedient? Ja - die Medien. Warum? Das von Hannes Androsch initiierte Bildungsvolksbegehren von 2011 hat zwar keine Reform von gesetzlichen Grundlagen bewirkt, aber es hat mit großer Nachhaltigkeit das Thema Schule in die (mediale) Öffentlichkeit gebracht - diese Debatte wird seither mit steigender Intensität geführt, Covid befeuert sie. So gut wie alle Medien - digitale wie Printformate, sogenannte Qualitätszeitungen und auch der Boulevard - widmen sich der Bildungsproblematik in großer Dichte auf hohem Niveau. Man bekommt heute so gut wie nichts "Falsches" mehr zu sehen oder zu lesen, auch weil man heute aus der internationalen Schulforschung weiß, was eine gelingende Schule braucht.
Bildungspanik und Schulflucht
Die umfassende und qualifizierte Medienpräsenz des Themas Schule hat unterschiedliche Auswirkungen. Nicht wenige Eltern verfallen in eine Art Bildungspanik und fördern beziehungsweise trainieren ihren Nachwuchs bereits im Kindergarten so intensiv, dass die Kinder beim Schuleintritt über Fähigkeiten und Kenntnisse von Drittklasslern verfügen. Sie treffen beim Schuleintritt auf Kinder, die seit der Geburt auf kompromisslose "Selbstbestimmtheit" getrimmt worden sind, teils noch nicht trocken sind und sich sprachlich auf dem Niveau von Dreijährigen bewegen. Ein Entwicklungsunterschied von sechs Jahren bei Sechsjährigen - nichts verdeutlicht das Dilemma der Schule eindrücklicher als dieses Faktum.
Die durch Covid verursachte temporäre Sistierung der Schul- beziehungsweise Unterrichtspflicht hat nun Schleusen in Richtung Verabschiedung aus der öffentlichen Schule geöffnet. In der Debatte um die Ganztagsschule argumentieren Eltern nicht selten, dass sie grundsätzlich dafür sind, aber: "Wenn schon Unterricht am Vormittag misslingt, hat es keinen Sinn, dieses Misslingen auf den gesamten Tag auszudehnen."
Sie wollen zumindest am Nachmittag ihren Kindern werthaltigen Privat- und Nachhilfeunterricht zugänglich machen. Vor allem diese Eltern, die sich das finanziell leisten können, sind es, die nun die makabre Covid-Gunst der Stunde nutzen und der öffentlichen Schule den Rücken kehren. Dass dies ein Schlag ins Gesicht all jener ist, die sich seit Jahrzehnten unermüdlich um Chancengleichheit, Fairness und Chancengerechtigkeit in der Schule und um den Zusammenhalt der Gesellschaft bemühen, kann einem die Tränen des Zorns und der Trauer in die Augen treiben.
Lärm im Klassenzimmer
Eindeutig Fake News sind jene Berichte, die besagen, die Covid-bedingten Schulschließungen hätten flächendeckende Lernrückstände verursacht. Für viele Kinder trifft das zu - aber eben nicht für alle. Es gibt zahlreiche Untersuchungen zum Thema Lärm in der Klasse. Sie berichten von Lärmspitzen im normalen Klassenunterricht (nicht im Turnsaal) von bis zu 80 Dezibel (Rasenmäher) und von Dauerlärm in der Stärke eines Staubsaugers. Die Gründe sind vielfältig - einen wesentlichen Anteil haben disziplingenerierte Störungen durch Lärm, aber auch ein unter den Lehrern zu wenig abgestimmtes Teamteaching kann störenden Lärm erzeugen oder unvermutet hereinkrachende Lehrerkollegen oder Schulleiter - dies allerdings ist ein Symptom ungenügender Schulorganisation, fehlender Kommunikationskultur, nicht existenter Schulaufsicht und mangelnder tabubefreiter Beratung.
Aber geradezu irrwitzig ist es, dass bei Schulrenovierungen mitunter die Wände in den Klassen so gestaltet werden, dass sie Geräusche nicht abmildern, sondern sogar noch verstärken. Die Ursache sind meist ästhetische Maximen von oft nicht mit der Schulwirklichkeit vertrauten Architekten. Und viele Kinder fühlen sich durch das Lärmchaos beeinträchtigt. Folgerichtig gibt es konkrete Berichte von Kindern, die die Covid-bedingten Schulschließungen als positiv, geradezu als Erlösung empfunden und mit so viel Begeisterung gelernt haben wie selten zuvor.
Die bösen Medien?
Zurück zu den Medien - sind sie also schuld an den steigenden Zahlen von Schulabmeldungen? Diese Fragestellung wäre unrichtig, denn vielmehr verdanken wir es den Medien, dass es nun ein so geballtes Maß an öffentlicher Aufmerksamkeit für die Probleme der Schule gibt. Sollte es in Österreich zu jenen großen Reformen kommen, die der Schule ihre Funktionalität zurückgeben würden, dann wäre dies mit ein Verdienst der Medien, die - angestoßen vom Bildungsvolksbegehren 2011 - über all die Jahre das Thema unüberhörbar und kompetent getrommelt haben.
Was ist zu tun? Diese Frage ist längst beantwortet: Leitungs- und Lehrpersonen auf allen Ebenen stärken, gekonnter Umgang mit Unterschiedlichkeit, weltmeisterliche Kommunikation, klare, knappe und hilfreiche Strukturen, zweckmäßige Schulgebäude und Ausstattung der Klassen, die Digitalisierung für Optimierungen nutzen. All diese Maßnahmen haben lange Bärte - einige sind erst zehn Jahre lang (Digitalisierung), manche aber sind so lang, wie es Schule gibt (rund 5.000 Jahre). Schneiden wir diese Bärte ab, tun wir das Richtige. Dann hat auch das unwürdige Dauer(not)lügen ein Ende.