Die Fusion mit Südafrika streben viele Bürger an. | Die Regierung in Pretoria ist skeptisch. | Aids rafft die Bevölkerung dahin. | Maseru/Stuttgart. Auf der Landkarte muss man schon genauer hinschauen, um das kleine Königreich ausfindig zu machen. Umschlossen vom großen Nachbarn Südafrika, erstreckt sich das winzige Staatsgebiet Lesothos im Dreieck der aufstrebenden Metropolen Kapstadt, Durban und Johannesburg. Ein unscheinbarer Fleck - die Enklave hat etwa die Fläche von Nieder- und Oberösterreich zusammen.
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Die geografische Lage könnte für die politische und wirtschaftliche Situation sinnbildlicher nicht sein: Lesotho befindet sich im Schatten Südafrikas. Während der Fokus der Weltöffentlichkeit bei der Fußballweltmeisterschaft gerade auf die größte Volkswirtschaft des Kontinents gerichtet ist, gerät das Schicksal von Lesotho beinahe in Vergessenheit.
Dabei sind die sozialen Probleme kaum zu übersehen: Der Zwergstaat leidet unter einem fragmentierten politischen System, wirtschaftlicher Depression und entwicklungstechnischer Stagnation. 45 Prozent der Bevölkerung sind arbeitslos, mehr als 50 Prozent leben unter der Armutsgrenze von einem US-Dollar pro Tag, und nur jeder vierte Mann kann Lesen und Schreiben. Was viel schwerer wiegt: Das teuflische HI-Virus grassiert in allen Bevölkerungsschichten. Ein Viertel der Bevölkerung ist infiziert.
Kampf ums Überleben
"Aids hat uns getötet", sagt Ntate Manyanye der britischen Zeitung "The Guardian". Und als hätte dieser Satz nicht schon genügend Dramatik, setzt der Mann fort: "Lesotho kämpft ums Überleben". Das HI-Virus bedroht die Existenz einer ganzen Nation. "Von den knapp zwei Millionen Einwohnern, die hier leben, sind 400.000 infizierte Waisenkinder. Die Lebenserwartung ist auf 34 Jahre gesunken. Wir sind verzweifelt."
Die Auswirkungen der Krankheit sind verheerend: Geschäfte verwaisen, Schulen müssen geschlossen werden, Friedhöfe quellen über. Die Zahl der Toten übersteigt bereits die Zahl der Geburten. Die Krankheit rafft das Volk dahin.
Ganze Wirtschaftszweige sind vom Aussterben bedroht. Die einst florierende Textilindustrie, die zu ihren Boomzeiten über 50.000 Menschen beschäftigte, ist heute praktisch bedeutungslos. Allgemein kommt die Industrialisierung in dem Entwicklungsland nur schleppend voran - die überwiegende Mehrheit arbeitet noch immer in der Landwirtschaft. Das macht die Menschen umso abhängiger von der Natur. Lang anhaltende Dürreperioden und Hitzewellen sind keine Seltenheit.
Ökologisches Fiasko
Hinzu kommt ein menschgemachter Faktor: Die Errichtung des Katse-Stausees am Oranje-River im Jahr 1998. Das Prestigeprojekt sollte die reichen Vororte von Johannesburg mit Wasser versorgen und dringend benötigte Devisen in die Staatskasse Lesothos spülen. Doch die Inbetriebnahme der zweitgrößten Talsperre Afrikas erwies sich als ökologisches Fiasko: Der Grundwasserpegel sank, Brunnen trockneten aus - die Bauern müssen um ihre Ernte bangen. Internationale Organisationen wie die Weltbank versuchen seitdem, mit Hilfsprojekten die Wasserarmut zu lindern. Trotz einiger Erfolge bleibt es aber ein Tropfen auf den heißen Stein.
Die sozioökonomische Malaise nagt denn auch an der Legitimation des politischen Systems. Das Parlament steht im Verruf, eine klientelistische Plattform zu sein. Die Verwaltung gilt als Zentrum dunkler Machenschaften. Und die Regierung schreckt vor Wahlfälschungen und Attentaten nicht zurück.
Der internationale "Freedom House Index", der die Demokratietauglichkeit aller Staaten auf der Welt überprüft, stuft Lesotho als "partly free", also teilweise frei, ein. Noch immer werden Freiheitsrechte eingeschränkt. So kommt es, dass sich politische Konflikte bisweilen ein gewaltsames Ventil suchen. 2009 entging Premier Pakalitha Mosisili nur knapp einem Attentat in seiner Residenz. Dem versuchten Anschlag war ein erbitterter Streit zwischen der regierenden Kongresspartei und Oppositionsparteien um mutmaßliche Wahlfälschungen und mangelnde Transparenz vorausgegangen. Im März geriet der Premier erneut in Bedrängnis, weil er einen Gesetzentwurf blockierte, der die Offenlegung der Beamtengehälter vorsah. "Mosisili under fire", titelte daraufhin die "Lesotho Times". In der Tat: Das Regime steht schwer unter Beschuss. Die innenpolitische Zerrissenheit und wirtschaftliche Rückständigkeit treiben das Land an den Abgrund.
Der letzte Ausweg
Den letzten Ausweg könnte eine Fusion mit dem prosperierenden Südafrika weisen. Ende Mai zogen mehrere tausend Leute durch die Hauptstadt Maseru, um dem Parlament und der südafrikanischen Botschaft eine entsprechende Petition zu überbringen. "Wir haben 30.000 Unterschriften gesammelt", sagt Vuyani Tyhali, Gewerkschafter und Gründer der "Bewegung für eine Volkscharta Lesothos".
Der Wunsch nach einem Zusammenrücken beider Länder wurzelt in der gemeinsamen Geschichte: 1912 wurde der ANC in Lesotho von Pixley kalsaka Seme gegründet, und während der Apartheid organisierte der bewaffnete Arm der Widerstandsbewegung seine Aktionen in dem kleinen Königreich. Lesotho diente als Rückzugsgebiet im Kampf gegen das verhasste Regime. Am 9. Dezember 1982 wurden bei einem Angriff südafrikanischer Milizen 42 Menschen getötet. Ein Ereignis, das die unterdrückten Volksgruppen - Basothos, Zulu, Xhosa - zusammenschweißte.
Viele Bewohner Lesothos sehen die Souveränität ihres Landes heute als Anachronismus an. Allerdings steht die Regierung in Pretoria dem Ansinnen skeptisch gegenüber - trotz der historischen Verwobenheit. Für sie ist die Aufnahme Lesothos momentan zu riskant. Der Strom an Flüchtlingen und Arbeitssuchenden könnte das fragile Wachstum Südafrikas gefährden. Nicht zuletzt deshalb erkennt die südafrikanische Regierung die Arbeitserlaubnis der Basothos nicht mehr länger an. Seit dem 1. Juni gelten verschärfte Einreisebestimmungen. Die Politik verschlossener Türen dämpft den Optimismus derer, die an die Gründung einer zehnten Provinz im Staat Südafrika glauben. Die Blockade vermag die Migrationsströme freilich kaum zu bremsen: Weiterhin begeben sich tausende Arbeiter in die Händen von Schleppern, um die Grenze auf illegalem Wege zu passieren.
Das Königreich steht derweil vor einem Dilemma: Entweder es gliedert sich um den Preis der Souveränität an Südafrika an und profitiert von dessen Wohlstand - oder es ist dem wirtschaftlichen Untergang geweiht. Eine dritte Lösung, die unter anderem Repräsentanten der Afrikanischen Union befürworten, bestünde in der Schaffung einer Freihandelszone. Zwar gibt es schon eine gemeinsame Währungsunion zwischen Loti (Lesotho) und Rand (Südafrika). Doch auch mit einer erweiterten Handelspartnerschaft wären die strukturellen Probleme des Lesothos noch nicht gelöst. Obgleich sich die Zuma-Administration aktuell noch verwahrt - auf lange Sicht wird wohl nur eine politische Integration Lesotho vor dem drohenden Zerfall retten können.