Über die Angst der Balten vor den Flüchtlingen aus literarischer Sicht.
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Graz. Den Juli dieses Jahres habe ich in Lettland verbracht, ich war das erste Mal dort. Ich habe ein wunderschönes Land kennengelernt, das in manchen Dingen sehr europäisch wirkt und in anderen überhaupt nicht. Europäisch, darunter verstehe ich: großherzig, sich der eigenen Ressourcen bewusst in dieser drängenden, momentan alles beherrschenden Flüchtlingsfrage. Das, was ich unter europäisch verstehe, wird von wenigen Ländern gelebt - da ist Lettland keine Ausnahme. Die EU bekommt es einfach nicht hin, eine gemeinsame Position in dieser Frage zu vertreten. Zu wenige Länder nehmen ihren Kapazitäten entsprechend Flüchtlinge auf. Auffallend ist aber die Vehemenz, mit der sich die Länder des ehemaligen Ostblocks gegen Hilfesuchende wehren.
Ich bewohne einen Monat lang das Schriftstellerhaus in Ventspils, einer lettischen Stadt an der Ostseeküste. Außer mir wohnen dort Autoren und Autorinnen verschiedenster Provenienz, nicht zuletzt aus Lettland. Wenn wir uns zum Abendessen treffen, besprechen wir Gott und die Welt und manchmal auch heikle Themen. Heikle Themen, das sind: Putin, die starke russische Minderheit im eigenen Land; die Zeit, in der die baltischen Staaten von Russland okkupiert waren; die aktuelle politische Lage und nicht zuletzt die Flüchtlingspolitik der EU. Wenn eines dieser Themen angerissen wird, äußern meine lettischen Kollegen einen Satz mit Vorliebe. Er wird vorgeschoben wie die alles erklärende Weltformel und er lautet: "Lettland ist ein kleines Land."
Gegen die Quote
Mit diesem Satz - "Lettland ist ein kleines Land" - wird unter anderem erklärt, wieso man sich vehement gegen die von der EU vorgeschlagene Flüchtlingsquote wehrt. Lettland hat sich, genauso wie die anderen baltischen Staaten, bis jetzt erfolgreich dagegen gewehrt, mehr als ein paar hundert Flüchtlinge aufzunehmen. Das ist, in Anbetracht der stattfindenden humanitären Katastrophe, gelinde gesagt Chuzpe. Begründet wird die Ablehnung der Schutzsuchenden und vor allem der befürchteten Zuwanderung mit den auch hierzulande üblichen Abwehrreflexen, da gibt es auch im Osten nichts Neues. Man befürchtet Überfremdung, diskutiert Verschleierungsverbote, lehnt verpflichtende Aufnahmequoten ab, sorgt sich ums Geld und begibt sich in einen Strudel aus Verweigerung und Unwissen. Im Gespräch mit den Letten und Lettinnen kristallisiert sich aber aus diesem vertrautem Muster etwas anderes für mich heraus - eine tiefer versteckte Traumatisierung der baltischen Völker.
Ende Juni hat die russische Generalstaatsanwaltschaft verlautbaren lassen, nun untersuchen zu wollen, ob die Unabhängigkeit des Baltikums wohl rechtens sei. Das ist eine handfeste Provokation, aber mit so einer Provokation haben die Politiker des Baltikums gerechnet, seit Russland sich die Krim wieder angeeignet hat. Die Angst vor dem um sich greifenden russischen Nachbarn ist groß. Die Zeit der russischen Okkupation ist eine zu frische Erinnerung.
In Lettland lernen die lettischen Schüler Englisch als erste Fremdsprache, später können sie sich entscheiden, ob sie entweder Deutsch, Französisch oder Russisch lernen wollen. Russisch ist ziemlich out. Das hat psychologische Gründe, erklärt mir eine lettische Schriftstellerin. Früher waren die Letten verpflichtet dazu, Russisch zu beherrschen, heute ist es umgekehrt: Alle hier lebenden Russen beherrschen auch Lettisch. Die Einführung von Russisch als zweite Amtssprache angesichts einer starken russischen Minderheit wurde mittels Referendum abgelehnt. Die jungen Letten können also kein Russisch mehr, weil sie sich nach Europa orientieren, und verbauen sich Jobchancen in der immer noch stark östlich verwurzelten Wirtschaft. So zumindest erklären es mir die Letten, mit denen ich ins Gespräch komme.
In den Supermärkten gibt es viele Waren, auf denen eine ausschließlich kyrillische Beschreibung steht. Es gibt aber auch georgische Schriftszeichen und sehr viele deutsch beschriftete Waren. Kaviar von der Krim, Thunfisch aus Island - ein bunter Supermarkt eigentlich. Getrocknete Fische, die beim Bier hängen, reizen mich - kann man die essen? Sie sehen aus wie Katzenfutter und kosten weniger als 1 Euro, also nehme ich ein Packerl mit ins Schriftstellerhaus. Meine Kollegen und Kolleginnen lachen mich aus - das sei etwas typisch Russisches, so etwas würden die Letten nie essen. Getrockneter Fisch zum Bier. Eine sagt: "The Russians have to spoil everything. Even the fish." Ressentiments, denen ich immer wieder begegne.
Minderheit im eigenen Land
Im Schriftstellerhaus herrscht ein buntes Sprachengewirr: Englisch, Deutsch, Lettisch, Russisch. Die beste Freundin der über den russischen Snack schimpfenden Autorin ist selbst Russin, sie blüht hier auf: Alles sei so günstig, in ihrem Heimatland liege der Rubel brach. Völkerverständigung hinter der Politik. Wir verstehen uns gut. So müsste es doch eigentlich immer sein. Von der Traumatisierung der Letten, von ihrer Angst, im eigenen Land eine Minderheit zu sein, erfahre ich erst später.
Das Okkupationsmuseum in Riga ist ein architektonisch beeindruckendes Gebäude, der Reiseführer schwafelt von "einem schwarzen Sarg mitten in der Stadt". Schwarz ist es tatsächlich, aber es kommt mir von außen schon etwas klein vor und mein Eindruck täuscht mich nicht: Das Okkupationsmuseum befasst sich fast ausschließlich mit der Zeit der russischen Okkupation Lettlands. Dass das Land und die Geschichte dieses Land geprägt
sind von über Jahrhunderte währende Fremdherrschaften, erst der Schweden, dann der Deutschen, dann der Russen, dann wieder der Deutschen und schlussendlich wieder der Russen, das wäre doch wichtig gewesen zu erwähnen. Mir fehlt ein wenig der Überblick, die Einbettung ins große Ganze. Eine Fremdkontrolle ersetzte die nächste, eine baute auf der anderen auf. Bis heute darf (zum Glück nicht ohne Widerstand!) die Waffen-SS in Riga aufmarschieren - es gab eine Zeit, in der Nazideutschland den Letten wie eine Befreiung erschienen sein muss. Als die Russen nach dem Zweiten Weltkrieg das Land dann wieder für sich in Anspruch nahmen, taten sie das mit rigiden Mitteln. Sie siedelten die lettischen Bewohner unter Zwang um (zum Großteil nach Sibirien) und verfrachteten russische Familien,
Militär, Angehörige reicherer Schichten nach Lettland (vor allem in die Städte). Der Anteil der lettischen Bevölkerung näherte sich über die Jahre immer mehr der magischen 50-Prozent-Marke.
Starke nationale Identität
Auch heute noch stellen Letten mit 62 Prozent eine schmale Mehrheit in ihrem eigenen Land. Und dieses Land ist ein Land, in dem ein richtiges Nationalbewusstsein, eine starke Identität nie Zeit hatte, sich zu entfalten. Das rechtfertigt nicht eine fast sture Ablehnung jeglicher Art von Zuwanderung (die die baltischen Staaten in Hinblick auf sinkende Geburtenzahlen genauso brauchen könnten wie andere europäische Staaten), aber es kann vielleicht zum Verständnis beitragen.
Nicht alle europäischen Länder haben die gleiche Geschichte. Europa wird besser zusammenwachsen können, wenn es seine einzelnen Mitgliedsstaaten besser zu verstehen sucht. Die Letten haben sich ihre Zugehörigkeit zur EU vielleicht anders vorgestellt - aber dass sie europäisch denken können, daran zweifle ich nicht. Druck auszuüben - wie zum Beispiel jüngst von Bundeskanzler Werner Faymann gefordert - wird kaum zu plötzlicher Großherzigkeit den Asylsuchenden gegenüber führen, artikuliertes Verständnis für die Gründe der Abwehrhaltung einzelner Länder hingegen könnte positive Ergebnisse zeitigen. Zum Beispiel, dass man, wie im Falle Lettlands, gerade als "kleines Land" Großes leisten kann und möchte.
Zur Autorin
Andrea Stift
Die Autorin (geb. 1976 in der Südsteiermark) ist Schriftstellerin und lebt mit ihrer Familie in Graz. Im Juli 2015 war sie im "Writers an Translators House Ventspils" in Lettland zu Gast. Letzte Veröffentlichungen:
"Auf Watte", "Franziskus unser. Literarische Positionen zum Papst" (Leykam).