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Letzte Ehre im Hinterhof

Von Thomas Seifert aus Damaskus

Politik

Täglich werden im Militärspital von Damaskus sterbliche Überreste von 20 Soldaten an Familien übergeben.


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Damaskus.

Der letzte Weg: In einem verbeulten Minibus werden die Leichen der gefallenen Soldaten zum Friedhof gefahren. seifert
© © Thomas Seifert

Gerade eben hat der Sargschreiner 26 schlichte Holzsärge zum Hinterausgang des Tishreen-Militärspitals geliefert. Sie werden vom blauen Lieferwagen gehoben, während Soldaten in Gala-Uniform mit syrischen Fahnen drapierte Särge, die die sterblichen Überreste von "Märtyrern" enthalten, in einer feierlichen Verabschiedungszeremonie im Hinterhof den Hinterbliebenen übergeben.

Zwölf Namen stehen heute auf der Überführungsliste: Mohsen Al-Qadi aus Tartus, Rang: General. Er war ein hochrangiger Kommandeur beim Luftverteidigungsregiment 601 und starb bei einem Attentat. Oder: Amgad Idris aus Dair az-Zur, Soldat. Oder: Ahmed Taha Huedi aus Homs. Seine Leiche war derart entstellt, dass er nur mithilfe einer DNA-Analyse identifiziert werden konnte. Meist sind es um die 20 Soldaten, die das Spital im Sarg verlassen. Ein paar seien im Spital ihren Verletzungen erlegen, sagt eine Ärztin, doch die meisten habe man hierher gebracht, um sie ins Leichenschauhaus im Keller des Spitals zu bringen, wo sie identifiziert und den Angehörigen übergeben werden.

Die Routine ist den handelnden Akteuren am Appell-Platz des sieben Kilometer nördlich vom Zentrum von Damaskus gelegenen Spitals nach dem nun schon über eineinhalb Jahre andauernden Konflikt bestens vertraut: Die Militärkapelle nimmt in einem Hinterhof vor einem riesigen Triptychon Aufstellung. Das Bild rechts zeigt die ewige Flamme am Grab des unbekannten Soldaten, das Bild in der Mitte die übereinandergelegten Symbole der drei Teile der syrischen Streitkräfte: Flügel für die Luftwaffe, Anker für die Marine und gekreuzte Schwerter für die Armee. Am Bild rechts: die syrische Flagge.

Trommelwirbel, dann die ersten Takte eines kämpferischen Marsches. Schließlich Frédéric Chopins getragener Marche funèbre in c-Moll. Die Särge werden den Familien übergeben und von Soldaten der Gardekompanie in Minibusse verladen und zum Friedhof gefahren. Keine Reden, keine großen Gesten. Die Gesichter der Hinterbliebenen, der Söhne, Töchter, Brüder, Schwestern, Mütter und Väter sprechen von Verzweiflung, Verlust und Trauer. Zwei Brüder haben eingerahmte Bilder eines der Verstorbenen mitgebracht, die ihn in Uniform und mit Kalaschnikow zeigen, und tragen es bei der Überführung in den Minibus mit trotzigem Stolz hinter dem Sarg her. Bei der Sargübergabe-Zeremonie des verstorbenen Generals Mohsen Al-Qadi werden seine drei wichtigsten Orden auf einem mit Goldkordeln versehenen Samtpölsterchen vor dem Sarg hergetragen. Drei Orden, ist das alles, was den Angehörigen bleibt? Jede Zeremonie dauert nicht einmal fünf Minuten.

Seit Ausbruch der Kämpfe verzeichnet das Tishreen-Militärspital um bis zu 50 Prozent mehr Patienten.
© © Thomas Seifert

Patienten aus ganz Syrien

Jede Seite in diesem nun bald 18 Monate dauernden Konflikt hat ihre "Märtyrer", die Opfer der Gegenseite sind entweder "Terroristen" oder "Schergen des Regimes". Und die toten Zivilisten? Kollateralschäden, wie in jedem Krieg. 6000 bis 8000 Soldaten und Polizisten sollen bisher bei den Kämpfen getötet worden sein, ebenso viele Kämpfer der syrischen Rebellen sowie fast 1900 Demonstranten und 30.000 Zivilisten. Die Angaben sind jedoch kaum überprüfbar, da beide Seiten die Opfer-Zahlen für die eigene Propaganda benutzen. Dass die Zahl der Toten in den Reihen des staatlichen Sicherheitsapparats in den vergangenen Monaten gestiegen ist, wird vom Direktor des Armeespitals, General Maurice, bestätigt. Er will nur seinen Vornamen nennen, da bereits einige seiner Ärzte und Schwestern von Rebellen ermordet wurden.

Wie viele der Patienten durch Kriegseinwirkung verwundet wurden? "Vor dem Konflikt wurden jeden Tag rund 100 Patienten ins Spital gebracht, nun sind es zwischen 120 und 150", sagt er. Die meisten der Verwundeten würden aus der Umgebung von Damaskus eingeliefert, wo es in den vergangenen Monaten immer wieder zu heftigen Gefechten gekommen ist, "aber wir sind das beste Armeespital Syriens und bekommen schwere, komplizierte Fälle aus dem ganzen Land." Die kämen dann meist im Armeehelikopter, sagt der grauhaarige 57-Jährige. 350 bis 400 Ärzte arbeiten in seinem Spital, dazu kommen 700 Schwestern und Pfleger, das Spital hat 1200 Betten. "Wir behandeln Soldaten und deren Familien, im Notfall würden wir aber jeden aufnehmen, sogar Obama", sagt General Maurice und lacht. Er sitzt nicht im Ärztekittel an seinem Schreibtisch, sondern in Tarnuniform samt schwarzen Schnürstiefeln.

Infiltrierte Rebellen

An den Wänden seines Büros sind Bilder des syrischen Präsidenten Bashar al-Assad sowie zwei Bilder von dessen Vater, Hafez al-Assad. Europa, Israel, die USA, Ägypten und die Golfstaaten würden einen schweren Fehler machen, indem sie die "Terroristen" unterstützen, sagt General Maurice. "Mindestens 50 Prozent" der Kämpfer seien nämlich "extremistische, mit Al-Kaida vernetzte Jihadis" und keine Syrer.

Diese Aussage deckt sich mit Angaben von Jacques Beres, Mitbegründer von Medecins Sans Frontieres, der eben aus Aleppo, wo er in einem geheimen Feldspital gearbeitet hatte, nach Paris zurückgekehrt ist. Dort sagte Beres gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters, dass rund die Hälfte der von ihm in Aleppo behandelten Kämpfer der Rebellenarmee keine Syrer waren. "Sie sagen, dass sie nicht an Bashar al-Assads Fall interessiert sind, sondern denken daran, wie sie danach an die Macht kommen können, um einen islamischen Staat mit der Sharia einführen können."

Ob in General Maurices Spital auch schon Rebellen behandelt wurden? "Die Rebellen haben ihre eigenen Feldspitäler, viele von ihnen werden in den Libanon oder die Türkei gebracht", sagt der 57-Jährige und setzt seine Klage über den Westen fort: "Die USA hatten bereits in Afghanistan die Illusion, sich der Jihadis bedienen zu können. Doch diese Leute brachten ihnen den 11. September."

Das syrische Regime betont diesen Punkt, da Damaskus darauf hofft, dass die Europäer und die USA Abstand von der bewaffneten Opposition halten, um keine radikalen Jihadi-Gruppen zu unterstützen. Doch freilich: Was ist mit den anderen 50 Prozent, den Kämpfern aus Syrien? Und was mit jenen syrischen Zivilisten, die den bewaffneten Aufstand aktiv oder passiv unterstützen? Kann ein Regime, das ganze Stadtteile der eigenen Hauptstadt unter Beschuss nehmen lässt, überdauern? Syrien müsse verteidigt werden, sagt General Maurice. Sein Redefluss wird durch den allzu bekannten Nokia-Klingelton unterbrochen, dann läutet auch noch das Telefon auf seinem Tisch und eine Schwester, die ihn dringend sprechen will, reckt den Kopf bei der Tür herein.

Der Fünfkämpfer

In den Stockwerken des Armeespitals liegen die Verwundeten in ihren Betten. Der Oberstleutnant einer mechanisierten Einheit - er ist seit 27 Jahren bei der Armee - will nur seinen Vornamen angeben: Haitham. Am 2. August geriet er mit seiner Einheit in einen Rebellen-Hinterhalt. Mit der Doshka, einem schweren Maschinengewehr russischer Bauart, sei er gegen die Angreifer vorgegangen, erzählt Haitham. Als er dann vom Panzer abgestiegen sei, hat ein Geschoss beide Beine durchschlagen. "Und nun liege ich schon über einen Monat hier - aber es geht mir täglich besser", meint der athletische 48-Jährige.

Haitham schiebt sein blaues T-Shirt hoch und zeigt eine weitere, gut verheilte Wunde. "Das war am 2. März in einem Dorf östlich von Damaskus, da habe ich eine Kugel in den Brustkorb abbekommen." Der Oberstleutnant spricht über seine Erfolge im militärischen Fünfkampf und über den Konflikt, in dem er bereits zum zweiten Mal verwundet worden ist: "Dieser Krieg ist sehr kompliziert. Die bewaffneten Rebellen sind mitten unter den Zivilisten. Wie können wir sie töten, ohne dass Zivilisten zu Schaden kommen? Wer ist Freund und wer ist Feind? Die syrische Armee arbeitet sehr hart daran, einen professionellen Job zu machen. Für unsere Erfolge brauchen wir die Kooperation der Menschen. Die Syrer haben die Schnauze voll von den Kämpfen, da bin ich mir sicher." Und dann, mit erhobenem Zeigefinger: "Ich bin sicher, wir werden kämpfen, bis wir den letzten Terroristen töten. Dann wird dieser Konflikt vorbei sein." Die Jihadis würden für den Gottesstaat kämpfen, "aber die Armee kämpft den wirklichen Jihad: für Allah und Al-Watan", für Gott, Volk und Vaterland.

Einen Fernseher mit Satellitenempfang im Einzelzimmer wie der Offizier Haitham hat der 23-jährige Salah Derwish nicht. Der Soldat aus Aleppo ist mit zwei weiteren Patienten im Krankenzimmer untergebracht, sein 29-jähriger Bruder ist auf Besuch und versucht ihn aufzumuntern. Verwundet wurde Derwish am vergangenen Freitag in der Nähe von Arbin, östlich von Damaskus. "Wir waren gerade bei einer Säuberungsaktion, als wir mit Granatwerfern angegriffen wurden. Es gab vier Tote und 17 Verwundete." Arbin sei voller Bewaffneter gewesen, sagt Derwish. "Da sind plötzlich 20 Kämpfer auf einem Dach aufgetaucht und haben uns unter Feuer genommen." Einer der Granatsplitter habe eine tiefe, bis an den Knochen reichende Wunde am Bein verursacht, die restlichen Wunden seien nur "Kratzer". In drei Monaten sei er wieder auf den Beinen. "In scha’allah", sagt er. "Wir werden gewinnen", davon ist der 23-Jährige überzeugt, "Shwai, shwai - langsam, langsam".