Über individuellen Waffenbesitz herrscht in den USA ein breiter kultureller Konsens. Versuche, dieses alte Recht zu beschneiden, scheitern am amerikanischen Selbstverständnis - und an der Verfassung.
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Die Muster wiederholen sich: Ein Massaker an einem öffentlichen Ort, wie etwa zuletzt an einer amerikanischen Schule im Dezember des vergangenen Jahres in Connecticut, eine geschockte Öffentlichkeit und meist ein offenbar wahnsinniger Einzeltäter. Ebenso unvermeidlich folgen stets die Beteuerungen der Solidarität und die Aufrufe zum gemeinsamen Gebet, Berge an Blumen und brennenden Kerzen am Ort der Untat.
Und jedes Mal steht Amerika vor der Frage nach dem Warum und Wieso? Mit derselben Regelmäßigkeit liefert die öffentliche Meinung in Europa bereits die immer wieder gleiche Erklärung: die amerikanischen Waffennarren, die Waffenlobby und die dort verbreitete Kultur der Gewalt. Aus der Entfernung wirken die Antworten einfach, vor allem wenn es sich um ein kulturelles und politisches Phänomen handelt, bei dem die entsprechenden eigenen Analyseraster fehlen. Doch ist dem wirklich so? Beziehungsweise: Warum tut sich Amerika so schwer, die Waffenproblematik in den Griff zu bekommen?
Recht auf Waffenbesitz
Das Hauptproblem stellen die Verfassung und die Rechtsprechung dar. Im Zweiten Zusatzartikel zur US-Bundesverfassung wird das Recht auf das Tragen von Waffen ausdrücklich gewährt, wobei die Gründerväter dies allerdings nur im Zusammenhang mit einer "well-regulated Militia", also im Rahmen einer Bürgermiliz garantierten. Auf Grund der Interpretationsfreiheit des Obersten Gerichtshofs haben die konservativ dominierten Höchstgerichte der letzten zwei Jahrzehnte daraus ein individuelles Recht auf Waffenbesitz und sogar auf das Tragen von Waffen in der Öffentlichkeit gezimmert. Im US-System gilt nämlich, dass der Gesetzgeber die Gesetze zwar beschließen kann, aber letztlich nur die Gerichte entscheiden können, was diese auch bedeuten.
Das Höchstgericht hat das alleinige Recht, ein Gesetz im Lichte der Verfassung zu interpretieren, also dessen Inhalt festzulegen. So wie beispielsweise vom Obersten Gerichtshof 1973 der Vierte Zusatzartikel zur Verfassung, das Recht auf Privatheit, so uminterpretiert wurde, dass damals die Abtreibung straffrei wurde, interpretiert das heutige Höchstgericht den Zweiten Artikel so um, dass es quasi ein unlimitiertes Recht auf individuellen Waffenbesitz gibt. Es tut dies allerdings auch deswegen, weil dafür eine Art breiter Konsens in der Bevölkerung besteht, der sich nicht nur aus den Machenschaften der Waffenlobby erklären lässt. Demokratien müssen naturgemäß auf breite Bevölkerungsanliegen reagieren, mögen sie auch nicht immer klug sein.
Auf Grund der Rechtsprechung der Gerichte sind die vielerorts bestehenden gesetzlichen Beschränkungen des individuellen Waffenbesitzes wie etwa in Washington und New York als verfassungswidrig aufgehoben worden. Kläger haben vor Ort die lokalen Restriktionen vor dem Bundesgericht angefochten, und da Bundesrecht das Landesrecht bricht, hatte eine örtliche Verordnung gegen den Waffenbesitz gegen die Rechtsprechung des Supreme Court keine Chance. Wenn man also breite gesetzliche Maßnahmen möchte, müsste man die Verfassung selbst ändern. Das ist jedoch in den USA ein derart komplexes Unterfangen, dass es in der Geschichte des Landes nur 27-mal vorkam.
Allein die letzte Verfassungsänderung der USA dauerte sage und schreibe 200 Jahre und wurde noch von Jefferson selbst initiiert. Bei einer erfolgreichen Verfassungsänderung müssten so viele Faktoren mitspielen, dass derzeit überhaupt kein Szenario denkbar ist, wie dies geschehen sollte. Es gibt viel zu viele Blockademöglichkeiten und Vetospieler. Im derzeit hochpolarisierten Amerika, wo sich Regierung und Kongress nicht einmal auf die einfachsten budgetären Prioritäten einigen können, scheint dies vollkommen unrealistisch.
Eine andere Option wäre, die Zusammensetzung des Gerichtshofes zu ändern, damit neue Waffenkontrollgesetze eine Chance auf ein juristisches Überleben bekommen. Dazu bedarf es jedoch der freiwilligen Pensionierung einiger der auf Lebenszeit ernannten Konservativen auf der Höchstrichterbank, und des Weiteren bräuchte der demokratische Präsident eine größere demokratische Mehrheit im Senat, damit nicht 40 republikanische Senatoren dies blockieren können. Nur dann hätten liberalere Richternominierungen auch eine Chance auf Umsetzung.
Selbst wenn man die Verfassungsfrage irgendwie umgehen könnte, müsste man sich auf ein Gesetz einigen und somit auf eine Ursachenfeststellung. Da es jedoch über 200 Millionen Waffen in der Bevölkerung gibt und unzählige Möglichkeiten, diese zu erwerben, privat zu verkaufen, einzutauschen und zu vererben, hätte ein solches Gesetz nach Meinung der Amerikaner dieselbe Wirkung wie das Scheunentor zuzumachen, nachdem das Pferd bereits entlaufen ist. Man würde rechtschaffene Bürger daran hindern, sich eine Waffe zuzulegen, um sich zu schützen, während Verbrecher und Verrückte problemlos legal oder illegal an Waffen herankommen könnten.
Streit um Restriktion
Die mehreren hundert Millionen Waffen, die bereits im Umlauf sind, würden ja durch ein Gesetz nicht weniger werden. Dazu kommt die Feststellung, dass gerade Massaker zwar von wahnsinnigen, aber dennoch akribisch vorgehenden Tätern nach langer Planung ausgeführt werden. Würden sich diese wirklich von einzelnen Waffengesetzen abschrecken lassen?, fragt die Kritik.
Des Weiteren finden Amok-Schießereien traurigerweise auch dort statt, wo es strenge Waffengesetze gibt, wie eine Häufung solcher Ereignisse in jüngster Vergangenheit in Europa zeigt, wenn wir nur an Norwegen, Deutschland oder die Niederlande denken. Außerdem sind die USA nicht so gewalttätig, wie man allgemein meint, zumindest nicht im Vergleich zu deren eigener Vergangenheit.
Die Verbrechensquote, vor allem jene der schweren Vergehen, ist seit vielen Jahren rückläufig, und Amerikas Großstädte wie New York oder Washington sind heute weitaus sichererer als noch vor 15 oder 20 Jahren. Insgesamt gesehen, waren die 1970er und 80er Jahre, also die Zeiten restriktiverer Waffengesetze, um vieles gewalttätiger als die Gegenwart. Hinzu kommt noch, dass laut Statistik kaum eine Korrelation zwischen Waffengesetzen und Verbrechenshäufigkeit besteht. Das heißt, Regionen mit restriktiverem Umgang mit Waffen sind keineswegs sicherer als jene, wo die Waffengesetze lockerer sind. All dies dient den Befürwortern des freizügigen Umganges mit Waffen als Argumentationshilfe.
In weiterer Folge würden bei zunehmender Restriktion der Waffengesetzgebung die amerikanischen Medien mit größter Wahrscheinlichkeit wie bereits in der Vergangenheit von Fällen berichten, wo Bürger zu Opfern von Verbrechen wurden, weil sie sich nicht entsprechend wehren konnten. Welcher gewählte Volksvertreter könnte sich dieser Diskussion politisch widersetzen?
Also bedarf es eigentlich einer nachhaltigen Änderung der Einstellung zu Waffen in der Bevölkerung. Eine Änderung der Waffenkultur setzt jedoch auch eine Änderung des Verhältnisses vieler Amerikaner zum Staat voraus. Wenn nämlich das Waffenmonopol allein bei den Regierenden liegt, wer garantiere dann, so eine weitverbreitete Meinung, dass die Mächtigen diesen Umstand nicht zum Zwecke der Tyrannei ausnützen?
Kulturell begründete Rechtfertigungen sind, auch wenn sie noch so wenig rational sind, schwer außer Kraft zu setzen. Erinnern wir uns doch, wie viele Studien es gibt, welche die Schädlichkeit von Aktiv- und Passivrauchen nachweisen, und wie schwer sich Österreich tat und immer noch tut, das Rauchen in öffentlichen Räumen gänzlich zu verbieten. Das Problem liegt bei der kulturellen Akzeptanz und nicht in der Rationalität der Begründung.
Gerade im regierungskritischen und ultralibertären ländlichen Amerika gilt Waffenbesitz als letzte Garantie dafür, dass sich die "liberalen Eliten" nicht über das "wahre Amerika" hermachen und sich dessen bemächtigen können. Daher ist es gerade für Obama, der in konservativen Landesteilen ohnehin verdächtigt wird, Afrikaner, Moslem und "Salonsozialist" zu sein, besonders schwierig, entsprechende Waffengesetze vorzuschlagen. Denn damit würde er genau dem Klischeebild entsprechen, das viele Konservative von ihm haben. Eine solche Initiative würde sofort als Angriff auf die Kultur und die amerikanische Tradition verstanden werden.
Reger Privathandel
Also bleiben wenige Alternativen: Sollte es überhaupt zu gesetzlichen Maßnahmen kommen, wird man wahrscheinlich wieder versuchen, den Besitz von Sturmgewehren zu unterbinden. Allerdings gibt es auch da diverse Hintertürchen und Selbstbausätze, die aus einem Einzelfeuergewehr nach privater Nachrüstung ein Schnellfeuergewehr machen. Auch die großen Munitionsmagazine könnte man untersagen, damit der Feuerausstoß pro Magazin geringer wird. Aber auch hier bietet das Internet rasch Ersatz.
Eine andere Stoßrichtung könnte eine Verschärfung der Background-Checks, also der Überprüfung der Personaldaten von Waffenkäufern darstellen. Nur wird dabei lediglich die polizeiliche Unbescholtenheit, nicht aber der Geisteszustand und die psychologische Verfassung überprüft. Außerdem betreffen diese Regulierungen nur Waffengeschäfte, nicht jedoch sogenannte Gun-Shows, also Fachmessen, wo ein reger Privathandel mit Gewehren und Pistolen floriert.
Letzendes steht wieder zu befürchten, dass diese gesetzlichen Maßnahmen ob ihrer Harmlosigkeit wirkungslos bleiben. Dadurch wird sich die Waffenlobby abermals in ihrer Argumentation bestärkt sehen, dass diese Gesetze keine Verbrechen verhindern, sondern nur brave Bürger nerven und in deren Rechte eingreifen.
Reinhard Heinisch, geboren 1963 in Klagenfurt, war viele Jahre lang Professor für Political Science an der University of Pittsburgh und ist seit 2009 Professor für Politikwissenschaft an der Universität Salzburg.