Die Wirtschaftsmisere macht der Bevölkerung immer mehr zu schaffen - und dem Ausland Sorgen.
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Es gehört schon eine ganze Portion Chuzpe dazu, sich vor die Kamera zu setzen, die Korruption, Vetternwirtschaft und das Missmanagement im Land zu beklagen und die politische Elite dafür verantwortlich zu machen, wenn man selbst Teil dieser Elite ist: sprich Wirtschaftsminister im Libanon. So geschehen in einem Interview mit dem arabischen Nachrichtensender Al Jazeera. Darin räumte Amin Salam das wirtschaftliche Desaster ein und konnte die Behauptung nicht widerlegen, dass sein Land ein gescheiterter Staat sei. Die Weltbank spricht von der schlimmsten Krise der Neuzeit, die UNO von einer hausgemachten Kernschmelze. Die Währung des Libanon ist wertlos und treibt fast 80 Prozent der Bevölkerung in die Armut.
Seit fast einem Jahr versucht der Internationale Währungsfonds (IWF), Bedingungen zu schaffen, um dem Land einen Hilfskredit zu geben. Eine Übereinkunft wurde im April 2022 unterzeichnet, dass die Regierung in Beirut Reformen umsetzen muss, um die Kreditlinien des IWF zu erfüllen. Bislang ist dafür nichts geschehen, und es sieht auch in absehbarer Zeit nicht danach aus. Der Libanon hat derzeit keinen Präsidenten und keine handlungsfähige Regierung. Elf Anläufe hat es bereits gegeben, einen neuen Staatschef zu wählen, nachdem die Amtszeit von Michel Aoun im Oktober abgelaufen war. Ohne Erfolg. Es sei der totale Kollaps, gibt Wirtschaftsminister Salam zu, wirtschaftlich aber auch politisch. "Alles ist negativ beeinflusst durch die Politik." Und das zeigt sich in den letzten Wochen besonders deutlich.
Einfluss der Politik auf Justiz
Im Hafen von Beirut ragen die Überreste des Getreidesilos wie ein Mahnmal in den Himmel. Noch immer liegen Trümmer am Boden verstreut und zeugen von der Katastrophe: Bei der gewaltigen Explosion am 4. August 2020 sind mindestens 220 Menschen ums Leben gekommen, mehr als 7.000 wurden verletzt und große Teile der Innenstadt zerstört. 300.000 Menschen sind obdachlos geworden. Ein Wiederaufbau ist schwer zu erkennen. Bis heute sind die Hintergründe der Katastrophe nicht geklärt.
Nun wollte ein Ermittlungsrichter neuen Schwung in die blockierten Untersuchungen bringen. Doch prompt wurde er vom Generalstaatsanwalt gestoppt. Die Politiker haben kein Interesse an einer Aufklärung. Mehr noch. Der Richter selbst sieht sich jetzt einer Anklage des Staatsanwalts ausgesetzt, der ihm "Rebellion gegen die Justiz" und "Usurpation der Macht" vorwirft. Alle 17 Verdächtigen, die in Zusammenhang mit der Katastrophe in Untersuchungshaft genommen wurden, sind wieder frei. Ein Schlag ins Gesicht der betroffenen Bevölkerung. "Wir wollen Gerechtigkeit", schrien aufgebrachte Angehörige der Opfer vor dem Gerichtsgebäude. Steine flogen, Scheiben klirrten. "Richter Tarek Bitar muss weitermachen!"
Doch der Kampf zwischen den beiden Juristen geht weit über das verfahrensmäßige Prozedere hinaus. Viele Richter und Anwälte im Libanon repräsentierten politische Parteien, kommentiert der Direktor der Nichtregierungsorganisation "Legal Agenda", Nizar Saghieh. Es gebe eine enorme Einflussnahme in das Justizsystem. "Hier haben wir es mit einem Fall zu tun, dass der Richter unabhängig arbeiten will und der Staatsanwalt auf die Politiker und die Mächtigen Rücksicht nimmt."
Unaufgeklärte Morde
Dies alles geschieht nicht etwa mit gesetzlichen Einschränkungen der Gewaltenteilung, wie in Israel, Polen und Ungarn zu beobachten ist. Im Libanon geschieht dies mit Mafia-Methoden. Die Politiker berufen sich auf ihre parlamentarische Immunität; die schiitische Hisbollah hat ein Verfahren zur Absetzung des Richters eingeleitet und seine Familie bedroht. Es ist deshalb zu bezweifeln, ob jemals aufgeklärt wird, wer für die gefährliche jahrelange Lagerung von Ammoniumnitrat im Hafen verantwortlich war, welches sich schließlich entzündete.
Auch die Medien kommen zunehmend in Bedrängnis. Nachdem nach den Massenprotesten 2019, als die Wirtschaftskrise im Zedernstaat begann, eine gewisse Unabhängigkeit der Berichterstattung zu verzeichnen war, nehmen die Drohungen gegen Journalisten jetzt zu. Selbst vor Gewalt wird nicht mehr zurückgeschreckt. So explodierte vor kurzem eine Granate in der Parkgarage eines TV-Senders, nachdem der einen Sketch über die Verfilzungen in der libanesischen Politik ausgestrahlt hatte. Die Organisation Reporter ohne Grenzen fordert eine lückenlose Aufklärung der Tat, die kein Einzelfall sei im heutigen Libanon. So wurde vor zwei Jahren der bekannte Publizist Lokman Slim ermordet. Bis heute ist niemand dafür zur Verantwortung gezogen worden. Seit den 1960er Jahren sind im Libanon etwa 200 Morde an Schriftstellern, Journalisten, Geistlichen und hohen Politikern, wie Präsident und Premier, verübt worden, von denen fast keiner aufgeklärt wurde.
Auch deshalb kann Wirtschaftsminister Salam nicht ausräumen, dass der Libanon ein gescheiterter Staat ist. Doch hat er zwei Heilsbringer ausfindig gemacht: Tourismus und Gas. Tatsächlich stellt der Dienstleistungssektor schon jetzt satte 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, während Industrie und Landwirtschaft lediglich fünf Prozent aufweisen. Der überwiegende Teil der Staatseinnahmen, so Kristof Kleemann, Leiter der deutschen Friedrich-Naumann-Stiftung in Beirut, käme jedoch von den Überweisungen der Libanesen im Ausland, die zu Tausenden seit Ausbruch der Wirtschaftskrise das Land verlassen haben.
Hoffnungsschimmer Gas
USA, Europa und auch Katar seien zwar Geldgeber für die vielen Flüchtlinge und die Armee, um deren Funktionsfähigkeit vor allem Washington besorgt sei, aber Staatshilfen seien das nicht. Der Iran schicke ab und zu einen Tanker Öl, um die Energiekrise etwas abzumildern. Aber auch das, sagt Kleemann im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" sei keine Hilfe für den Staatshaushalt. So bleibe also tatsächlich nur die Hoffnung auf das Gas, das vor den Küsten Libanons und Israels gefunden wurde und gemeinsam gefördert und exportiert werden soll.
Seit der Unterzeichnung des Abkommens zwischen beiden Ländern im Oktober hätte es zumindest keine Drohgebärden seitens der Schiitenmiliz Hisbollah gegenüber Erzfeind Israel mehr gegeben, weiß Kleemann. Doch bis tatsächlich libanesisches Gas nach Europa fließen kann, wird es noch eine ganze Weile dauern.