Mord an Abgeordnetem heizt Machtkampf weiter an. | Regierungsmehrheit im Parlament weiter dezimiert. | Beirut. Unmittelbar vor der Präsidentenwahl am kommenden Dienstag ist die innenpolitische Krise im Libanon erneut eskaliert. Der Mord an dem Abgeordneten des vom Westen unterstützten Regierungsbündnisses, Antoine Ghanem, am Mittwochabend, macht gerade erwachte Hoffnungen auf eine Annäherung zwischen der von der schiitischen Hisbollah ihres Generalsekretärs Hassan Nasrallahs geführten Opposition und den Verbündeten Premierminister Fuad Sinioras vorerst zunichte.
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Da der Präsident zumindest im ersten Wahlgang im Parlament mit zwei Dritteln der Stimmen der Abgeordneten gewählt werden muss, ist eine Einigung auf einen Konsenskandidaten notwendig. Der christliche Hisbollah-Verbündete Michel Aoun von der Freien Patriotischen Bewegung (FPM) genießt bislang die Unterstützung der Opposition für seine Kandidatur, während das Regierungsbündnis mit Nassib Lahoud einen weniger zugkräftigen Kandidaten für die Nachfolge des amtierenden Präsidenten Emile Lahoud nominiert hat. Das politische System des Libanon sieht vor, dass stets ein christlicher Maronit das höchste Staatsamt bekleidet.
Dass Ghanem Maronit war, dürfte bei dem Attentat jedoch weniger eine Rolle gespielt haben als seine klare Positionierung gegen die einstige Protektoratsmacht im Libanon, Syrien. Die US-Regierung, EU-Politiker ebenso wie Regierungschef Siniora und Saad Hariri, Sohn des im Februar 2005 wahrscheinlich mit syrischer Unterstützung ermordeten Expremiers Rafik Hariri, machten unmittelbar nach dem Anschlag die Führung in Damaskus für den Mord verantwortlich. Ziel des Regimes von Präsident Baschar al-Assad sei es, die durch den Tod Ghanems auf nur noch 68 von 128 Sitzen reduzierte parlamentarische Mehrheit des Regierungsbündnisses weiter zu dezimieren.
Ghanem war bereits die achte antisyrische Persönlichkeit, die seit dem Mordanschlag auf Hariri umgebracht wurde.
Wahlboykott der
Opposition denkbar
Wie der Mord an Ghanem zeigt, ist eine weitere Eskalation nicht ausgeschlossen. So ist wenige Tage vor der Präsidentenwahl immer noch unklar, ob die Abgeordneten angesichts eines fehlenden Konsenskandidaten überhaupt im Parlament erscheinen werden. Da weder die Opposition noch Siniora und seine Mitstreiter über die von der Verfassung für den ersten Wahlgang vorgeschriebene Zwei-Drittel-Mehrheit verfügen, könnte der mit Nasrallah und Aoun verbündete Parlamentspräsident Nabih Berri darauf setzen, die Oppositionsabgeordneten zum Boykott der Abstimmung aufzufordern.
Hariri, aber auch die Opposition haben als letzten Ausweg die Wahl des derzeitigen Oberbefehlshabers der libanesischen Armee, Michel Sleiman, zum Übergangspräsidenten ins Spiel gebracht. Allerdings müsste für einen solchen Schritt die Verfassung geändert werden - ein Vorgehen, das zumindest die US-Administration, die die Siniora-Regierung stramm unterstützt, bislang ablehnt.
Eine weitere Eskalation des seit über einem Jahr anhaltenden Machtkampfes ist deshalb wahrscheinlich. Kurz nach Ende des Libanon-Krieges im August 2006 hatte Aoun den Rücktritt Sinioras und die Bildung einer "Regierung der nationalen Einheit" gefordert. Im vergangenen November schließlich vollzog auch die bis dahin im Kabinett vertretene Hisbollah den Bruch mit dem sunnitischen Premierminister: Nasrallah berief seine Minister aus der Regierung zurück, Vertreter von Berris Partei Amal sind seitdem ebenfalls nicht mehr in der Exekutive vertreten. Sollten die Abgeordneten des Regierungsbündnisses im zweiten Wahlgang ihren Kandidaten mit einfacher Mehrheit wählen, hat die Opposition mit der Bildung einer Parallelregierung gedroht.