Papier ist bekanntlich geduldig, und Parteiprogramme sind nur etwas für interessierte Historiker. Mit dieser nicht ganz falschen Sicht der Dinge könnte man die Ankündigung von ÖVP-Obmann Josef Pröll, der seiner Partei ein neues Programm verpassen will, auf sich beruhen lassen. | Sollte man aber nicht. Denn erstens gehört das programmatische Nachdenken über die zentralen politischen Fragen von Gegenwart und Zukunft zu den elementaren Kernaufgaben von Parteien. Und zweitens denken Parteien in unserer von kurzfristigen Stimmungen geprägten Öffentlichkeit ohnehin viel zu selten über grundsätzliche Fragen nach - und wenn doch, halten sie sich oft nicht in ihrem Handeln an ihre eigene Programmatik.
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An diesem Punkt kommt das Spannungsverhältnis zwischen pragmatischen Sachzwängen und programmatischen Grundsätzen zum Tragen. Insbesondere große Koalitionen verlangen meist nach großen Spagaten. Umso mehr, wenn der Streit zwischen divergierenden Standpunkten kurzerhand zur politischen Todsünde erklärt wird.
Aber zurück zur ÖVP: Deren aktuelles Programm stammt aus dem Jahr 1995 - rechnet man die zweijährige Diskussionsphase hinzu, sogar aus dem Jahr 1993. "Damals ist Österreich gerade erst der EU beigetreten, Ostöffnung und Globalisierung befanden sich - gemessen am heutigen Stand - noch in ihren Anfangsphasen, das gleiche gilt auch für technologische Entwicklungen wie die Digitalisierung", erläutert Werner Fasslabend, Präsident der Politischen Akademie der ÖVP. Höchste Zeit also, die eigenen Positionen an die geänderten Bedürfnisse der Gegenwart anzupassen.
Tatsächlich dürfte dies die leichtere Übung für die diversen Arbeitskreise werden. Sehr viel schwieriger wird sein, die programmatische Identität der Volkspartei in die neue Zeit hinüberzuretten.
Wie hält es die ÖVP etwa mit den eigenen christlichen Wurzeln in einer Zeit, in der statistische Prognosen über eine mögliche künftige muslimische Bevölkerungsmehrheit am Ende des Jahrhunderts kursieren? Oder mit Liberalismus und dem Slogan "Mehr Privat, weniger Staat", wenn der Staat von allen Seiten als Retter in höchster Not herbeigerufen wird? Der Balanceakt zwischen aufgeklärter Selbstverantwortung, einst auch Freiheit von staatlicher Bevormundung genannt, und einem allumfassenden Fürsorgestaat ist da noch gar nicht angesprochen. Wenigstens der mediale Dauerbrenner "Homo-Partnerschaft" sollte bis zum Abschluss der Programmarbeit bereits einer Lösung zugeführt sein.
Der ÖVP ist für ihren Mut, die eigenen Grundsätze einem Wirklichkeitscheck zu unterziehen, zu gratulieren. Anschließend muss sie diesen Grundsätzen im politischen Alltag Leben einhauchen. Das ist, wie gesagt, die schwierigere Übung.