San José - Am Sonntag finden in Nicaragua Parlaments- und Präsidentenwahlen statt. Beim Rennen um das höchste Amt im Staat führt nach letzten Umfragen der einstige Sandinistenführer und Chef der Nationalen Befreiungsfront (FSLN), Daniel Ortega, vor seinem konservativen Herausforderer Enriquo Bolano. Vor allem die armen Bevölkerungsschichten erhoffen sich nach über zehn Jahren Rechtsregierungen vom ehemaligen Sandinistenrebell mehr Augenmerk für ihre dringlichsten Belange: Jobs, Bildung und ein sozialeres Gesundheitswesen.
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Es wird ein knappes Kopf-an-Kopf-Rennen. Einer in der Zeitung "El Nuevo Diario" veröffentlichten Umfrage zu Folge führt Ortega mit 41 Prozent nur zwei Prozentpunkte vor Bolano von der konservativen Liberal-Konstitutionalistischen Partei (PLC). Den Ausschlag, so die Meinungsforscher, könnten die großen Städte geben, wo die Sandinisten größeren Rückhalt haben als die PLC.
Schon einmal, 1984, hatte Ortega alias "El Commandante", wie er heute noch gerne genannt wird, eine Präsidentenwahl gewonnen, nachdem die Sandinisten unter seiner Führung fünf Jahre zuvor das blutige Somoza-Regime gestürzt und in den von ihnen kontrollierten Gebieten den Großgrundbesitzern ihre Latifundien entrissen hatten. Die Antwort der USA unter dem damaligen Präsidenten Ronald Reagan auf die "kommunistische Bedrohung", nur 1.200 Kilometer von Miami entfernt, waren massive Waffenlieferungen an die rechtsgerichteten Contras, die schließlich wegen der dubiosen Finanzierungskanäle als "Contra-Gate" in die Geschichte eingingen.
Heute, 20 Jahre später, gibt sich Ortega als moderater Vertreter von Marktwirtschaft und Sparpolitik. Seine revolutionären Tage hat er, wie er sagt, hinter sich gelassen. Gute Beziehungen zu Washington und die Stärkung des Privatsektors gehörten im Falle eines Sieges zu Prioritäten seiner Politik, bekannte er im Wahlkampf. Und schließlich hat der 54-Jährige, um auch bei der katholischen Mittelschicht zu punkten, den christlichen Glauben entdeckt - eine Kette mit Kreuz gehört mittlerweile zu seinem Markenzeichen. "Sandinismo steht für Demokratie, die Welt hat nichts zu fürchten", beruhigte Ortegas Mann für das Amt des Vize-Präsidenten, Agustin Jarquin, schon vor etlichen Wochen.
In den USA wird dennoch unverblümt einem Sieg von Bolano, dem Vizepräsidenten von Staatschef Arnoldo Aleman, der Vorzug gegeben und mit perfiden Argumenten - seit den Terrorangriffen vom 11. September vor allem mit der Nähe der Sandinisten zu Terroristen-Helfern - unterlegt (gemeint sind die guten Beziehungen zu Libyens Staatschef Muammar Ghaddafi). Washington habe aus diesem Grund "ernsthafte Vorbehalte" gegen Ortega, erklärte ein Sprecher von US-Außenminister Powell vor 4 Wochen. Wenig später sieht man im nicaraguanischen Fernsehen Osama bin Laden mit einem AK-47 Sturmgewehr, und eine Stimme sagt: "Könnte er in Nicaragua wählen, er würde für Commandante Daniel Ortega stimmen". Für Ortegas Sprecher Saul Arana ist all dies ein Indiz für die "tiefe Verzweiflung" der Liberalen. "Bin Laden wurde von CIA ausgebildet. Was hat er also mit den Sandinisten zu tun?", wehrt sich Arana.
Mit der Terror-Kampagne würde die PLC versuchen, von der Wirtschaftsmisere abzulenken, meinen Viele in der FSLN. 70 Prozent der Menschen sind ohne Arbeit, viele leben unter der Armutsgrenze, in den Slums der Großstädte grassieren Drogen und Krankheiten. 1998 verwüstete auch noch ein Hurricane weite Teile des Landes, Tausende Menschen starben. 40 Prozent der Exportgewinne muss Nicaragua für die Tilgung der seiner Auslandsschulden aufwenden, und das bei drastisch gesunkenen Kaffeepreisen, dem Hauptexportprodukt des Landes. Aleman baute zwar Straßen und Schulen, um die Wirtschaft anzukurbeln, aber die unteren Schichten spürten davon nichts.
Darin, und nicht in der Sandinismo-Nostalgie sehen Beobachter den Grund für die Wahlchancen Ortegas. Die Armen im Land fühlen sich von Alemans Regierung im Stich gelassen und verraten. Die enorme Kluft zwischen Volk und Machtzentrum schlägt sich auf in den Gehältern nieder. Während viele Nicaraguaner nur einen Dollar pro Tag verdienen, können Alemans Minister bis zu 12.000 Dollar monatlich verbuchen - von den von einigen gern angenommenen Schmiergeldern abgesehen. Ortega selbst hatte im Wahlkampf darauf abgezielt, die Korruption mit Fingerzeig auf Alemans politisches Umfeld zum großen Thema zu machen. Tatsächlich waren in dessen fünfjähriger Amtszeit zahlreiche Skandale ans Licht der Öffentlichkeit getreten, auch Aleman selbst geriet ins Gerede. Nicht deshalb, sondern weil er aufgrund der Verfassung nicht ein zweites Mal kandidieren darf, schickte die Partei diesmal den 73-jährigen Bolano ins Rennen.