Philipp Rösler bleibt aber Parteichef.
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Berlin. Es war die Sensation: Zehn Prozent hatten die Liberalen beim Auftakt zum Bundestagswahljahr in Niedersachsen erreicht - jene Partei, der nicht einmal mehr der Einzug in den Landtag zugetraut worden war. Doch schnell stand fest: Das ist in erster Linie den Christdemokraten geschuldet. Vier von fünf, die der FDP im flächenmäßig zweitgrößten Bundesland nach Bayern ihre Stimme gaben, waren eigentlich CDU-Wähler. Man wollte auf "Nummer sicher" gehen, dass die schwarz-gelbe Koalition fortgesetzt wird.
Das hat nicht geklappt, am Ende gab es eine hauchdünne Mehrheit für SPD und Grüne. Und die Christdemokraten verloren nicht nur wegen der Schützehilfe ihrer Wähler für die FDP 6,5 Punkte und fielen auf 36 Prozent. Die Wahl in Niedersachsen zeigt auch: Kanzlerin Angela Merkel ist sehr beliebt - doch das allein wird nicht reichen, um nach der Parlamentswahl im Herbst im Amt zu bleiben. In den Städten etwa reüssiert die CDU nicht. Und ob es sich tatsächlich ausgehen wird, mit der FDP erneut zu regieren, steht in den Sternen.
Der FDP-Chef Philipp Rösler hat die Liberalen bundesweit bisher nicht aus dem Umfragetief gebracht. Noch immer zittert die FDP um den Einzug in den Bundestag. Deshalb war auch am gestrigen Montag trotz des Wahlerfolges in Niedersachsen lange Zeit nicht klar, wie es mit dem 39-Jährigen weitergehen wird.
Man habe sich zusammengesetzt und überlegt, wie der Zug gemeinsam gezogen werden könne, sagte Rösler dann am Montagnachmittag in Berlin. Und präsentierte dann das Ergebnis: Das liberale Urgestein Rainer Brüderle wird Spitzenkandidat für die Bundestagswahl, Rösler selbst bleibt aber Parteichef. Bei einem von Mai auf März vorgezogenen Parteitag sollen die Delegierten dieses Duo dann absegnen.
Leihstimmen für die FDP sind für Union gefährlich
Rainer Brüderle werde, das "Gesicht und der Kopf" der Liberalen im Wahlkampf sein", erklärte Rösler. Er selbst werde als Parteivorsitzender das ganze Team und damit auch die Minister führen. Man sei unterschiedlich, habe aber eine gemeinsame Grundhaltung: Man wolle eine "möglichst freie Gesellschaft in diesem Land." Der 67-jährige Brüderle sagte anschließend, gemeinsam mit Rösler werbe er für eine "liberale Verantwortungsethik, keinen Vorschriftenstaat".
Auch die CDU ist nun mit einer neuen Situation konfrontiert. Das Kalkül mancher CDU-Wähler, der FDP leihweise ihre Stimme zu geben, ist gefährlich für die Union. Bei der Bundestagswahl werde "jeder für sich" kämpfen, betonte deshalb Parteichefin Merkel. Die Niederlage in Niedersachsen sei schmerzhaft, "insofern waren wir heute ein stückweit alle traurig".
Jubel gab es hingegen bei den Grünen, die in Niedersachsen 5,7 Prozent hinzugewinnen konnten. "Den Machtwechsel in Niedersachsen haben wir herbeigeführt", sagte der Spitzenkandidat für die Bundestagswahl, Jürgen Trittin, der als nächster Finanzminister unter einem Kanzler Peer Steinbrück gehandelt wird.
Dieser gab sich in den vergangenen Stunden ungewohnt demütig. Stundenlang war Sonntagnacht nicht klar, ob die konservativ-liberale Landesregierung in Niedersachsen nach zehn Jahren weiterregieren oder es einen Wechsel zu Rot-Grün geben wird. An der niedersächsischen SPD sei das wackelige Ergebnis jedenfalls nicht festzumachen, sagte der zuletzt umstrittene Steinbrück in der Berliner Parteizentrale. "Es ist mir bewusst, dass ich maßgeblich dafür eine gewisse Mitverantwortung habe." Und am Montag ergänzte er: "Man wird bedachtsamer mit den eigenen Aussagen umgehen müssen." Wichtig seien jetzt jedenfalls Themen, darunter bezahlbare Mieten in den Städten, Frauenquoten für Aufsichtsräte und gleiche Löhne für Männer und Frauen. "Ich hab eine Verantwortung für die Partei, die in diesem Jahr 150 Jahre alt wird. Da knickt man nicht einfach ein, verlässt die Bühne", sagte Steinbrück. Seit dem Wahldesaster bei der Bundestagswahl vor vier Jahren ist in der SPD viel von "sozialer Gerechtigkeit" die Rede. Doch das, was in der Öffentlichkeit angekommen ist, war zunächst Unklarheit über den SPD-Kurs und zuletzt ein Kanzlerkandidat, der als "geldgierig" gilt.
Doch das "linke Lager" hat nun eine nicht zu unterschätzende Chance bekommen. Die hauchdünne Mehrheit in Niedersachsen mit dem künftigen Ministerpräsidenten Stephan Weil (SPD) bringt nun erstmals seit 1999 eine linke Gestaltungsmehrheit im Bundesrat in Berlin, der Länderkammer.
Man kann, wie es in Deutschland so schön heißt, "Kante" zeigen, kann Gesetze der Regierung blockieren und Initiativen starten, zu Steuerhinterziehung, zum Stopp des verhassten Betreuungsgelds für Kinder unter drei Jahren, zu einem flächendeckenden Mindestlohn. Für die SPD könnte das eine letzte Chance sein.
Der Königsmörder zieht zurück
(da) "In allen Bereichen gegen Egoismus und für die Freiheit zur Verantwortung zu kämpfen", bedeute für Rainer Brüderle laut eigenem Bekunden, liberal zu denken und handeln. Ganz anders aber, als Machtpolitiker, der ohne Rücksicht auf Verluste FDP-Chef Philipp Rösler beschädigte, präsentierte sich Brüderle in den vergangenen Monaten.
Zur Hauptbeschäftigung des 67-jährigen Fraktionsvorsitzenden, der nie das Licht der Kameras scheut, schien die öffentlichkeitswirksame Rolle als Königsmörder zu werden. Dass er somit auch als logischer Nachfolger des Regenten Rösler gelten würde, bedachte Brüderle nicht. Als ihm der Parteichef am Montag entnervt die Spitzenkandidatur bei der Bundestagswahl und den Vorsitz der FDP anbot, lehnte Brüderle zweiteres ab.
Der Mut habe den liberalen Spitzenpolitiker verlassen, urteilten deutsche Medien. Vielleicht lag es auch daran, dass sich Brüderle seinen beruflichen Lebenstraum bereits 2009 erfüllte: Damals wurde der Diplom-Volkswirt zum deutschen Wirtschaftsminister ernannt, bekleidete das Amt aus Parteiräson aber nicht einmal zwei Jahre. Doch elf Jahre arbeitete er an diesem Ziel.
Nach außen gesellig und gut gelaunt, verfolgt der gern kochende Genussmensch seine Ziele stets beharrlich. Als Sohn eines Textilhändlers in der Pfalz, wo er als Kind Hüte und Krawatten an den Mann brachte, lernte Brüderle früh das Werben um Kunden - und nutzte es später für den Wählerfang.
Brüderle kennt die Liberalen wie kaum ein zweiter Politiker der Partei: Seit 1973 ist er in der FDP aktiv - in jenem Jahr wurde der jetzige Parteichef Rösler erst geboren. Seit fast 30 Jahren ist Brüderle Mitglied des Bundesvorstandes und übt Politik weiterhin leidenschaftlich als Beruf aus - Rösler möchte spätestens mit 45 Jahren die Politik verlassen. Mit der Notlösung des ungleichen Duos wollen nun die Freien Demokraten bei der Bundestagswahl den Absturz verhindern.