Frontalunterricht, still sitzen, stundenlang zuhören – das war gestern. Heutzutage setzt man die Menschen in dunkle Räume, konfrontiert sie mit einer Ausnahmesituation, um so ihre ungebrochene Aufmerksamkeit zu bekommen. Eine Grenzerfahrung
mit offenbar nachhaltiger Wirkung.
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Angefangen hat das Experimentieren mit der Dunkelheit in unseren Breiten 1989 mit der Ausstellung "Dialog im Dunkeln", die ihre Premiere auf der Messe in Düsseldorf hatte und erstmals sehende Menschen mit der Erfahrung des Blindseins konfrontierte. Blinde oder sehbehinderte Führer halfen den Besuchern, alltägliche Situationen in absoluter Dunkelheit zu bewältigen – eine Grenzerfahrung mit überraschendem Erfolg. Inzwischen ist das Projekt in 18 Ländern der Erde vertreten und expandiert weiter, bietet auch Franchising an: Dinner im Dunkeln, Flirts im Dunkeln und Trainings aller Art im Dunkeln waren quasi Spin-offs der Ursprungsidee. – In Wien war "Dialog im Dunkeln" übrigens bereits 1993 zu Gast, mit so großem Erfolg, dass sich die Ausstellung bald fast alljährlich einfand.
"Dialog im Dunkeln" war einer der Auslöser für die Erkenntnis, dass Sehende in absoluter Dunkelheit in mehrerlei Hinsicht offener wurden, nämlich nicht nur für die Belange der Blinden, sondern überhaupt lernfähiger, aufmerksamer, kindlich verspielter und neugieriger. Und das sind alles Reaktionen, die man im Bereich der Informationsvermittlung als durchaus wünschenswert definiert. Was lag also näher, als Lernende – zunächst Manager – in dunkle Räume zu bringen, um dort nachhaltige Eindrücke zu vermitteln?
Training im Dunkeln
2008 wagte sich die Allianz (Allianz Global Investors AG) diesbezüglich weit vor und eröffnete in München das Allianz Dialogue Training Center (DTC). Sie erwarb eine Lizenz von "Dialog im Dunkeln"-Erfinder Andreas Heinecke und bot Coaching für Sehende in lichtlosen Räumen an. Begleitet werden die Seminarteilnehmer dabei von blinden bzw. sehbehinderten Trainern. Das weltweit einzigartige Trainingscenter bietet seine Dienste mittlerweile auch externen Firmen an.
Das "Wiener Journal" fragte die Leiterin des Dialogue Training Centers, Angelika Antz-Hieber, warum es erfolgreicher ist, Menschen im Dunkeln zu trainieren als unter "normalen Bedingungen". Ihre Antwort ist nachvollziehbar: "Die Dunkelheit stärkt nicht nur den Zusammenhalt unter den Teilnehmern, sie können sich auch besser konzentrieren und auf andere eingehen. Sie schafft eine Vertrautheit unter den Seminarteilnehmern, die im Hellen bei weitem nicht so schnell entsteht. Somit kommt man bei einem Seminar im Dunkeln viel schneller an die erwünschten Ergebnisse. Die Abwesenheit von Licht bewirkt eine veränderte Sichtweise auf Dinge, wie eine aktuelle Studie der Uni Dortmund (siehe Seite 6!) unterstreicht: In der Dunkelheit sind Teilnehmer fast 30 Prozent kreativer als im Hellen. Auch die Vielfalt der Ideen ist meist größer als bei Tageslicht. Die Teilnehmer werden aus ihrer gewohnten Komfortzone gelöst, damit neue Denkansätze entstehen können."
Abschied vom Klassenzimmer
Man habe herausgefunden, dass die klassische Wissensvermittlung im Vortragsstil und in Klassenzimmer-Atmosphäre wenig effektiv sei, so Antz-Hieber. Neue, erfrischende und erfahrungsbasierte Ansätze seien daher gefragt gewesen, und diese habe man aus der Neurodidaktik übernommen, die Lehr- und Lernprozesse unter Integration neurowissenschaftlicher Prinzipien überprüft habe.
"Ein zentraler Katalysator für nachhaltiges Lernen ist physiologische Erregung. Von Wettkampfsportlern weiß man, dass ein gewisses Maß an Anspannung notwendig ist, um die Leistung optimal abrufen zu können. Zu wenig Anspannung verhindert, dass auf alle Ressourcen zurückgegriffen wird, zu viel davon resultiert in Panik und Blockaden. Auf die richtige Mischung kommt es also an. Auch unser Gehirn verarbeitet Informationen nachhaltiger, wenn körperliche Erregungsmuster intensiviert werden. Die Dunkelheit stellt dabei einen evolutionsbiologisch programmierten Stimulus für physiologische Erregung dar. Bei Nacht, oder wenn plötzlich das Licht gelöscht wird, sind wir Menschen quasi im Alarmzustand. Unsere Sinne schärfen sich und die Aufmerksamkeit wird erhöht. Dieser Zustand gesteigerter Konzentration und Aufnahmebereitschaft ist ein äußerst lernförderliches Klima. Auch Emotionen sind wichtig, weiß die Neurodidaktik: Inhalte, die in positiver Stimmung gelernt werden, können später leichter abgerufen werden", führt die Dunkeltraining-Expertin weiter aus.
Die Skepsis, in wie weit Dunkeltrainings auf den Büroalltag umsetzbar seien, weiß sie zu entkräften: "Was tun Menschen, wenn sie unsicheres Neuland betreten? Sie greifen auf automatisierte, schnell abrufbare Strategien und Verhaltensmuster zurück. Erst wenn sie damit nicht zum Ziel kommen, entsteht Weiterentwicklung." Und all das geschieht im Dunkeln. Dass die Teilnehmer außerdem die anderen Gruppenmitglieder nicht sehen könnten, mache sie unbefangener, offener, lernbereiter als sonst.
Typische Motive für Firmen, die im Dia-logue Trainingscenter ihre Mitarbeiter weiterbilden lassen, seien eine Verbesserung der Kommunikation, insbesondere bei virtuellen Teams, Sensibilisierung für interkulturelle Kompetenzen, aber auch Managertrainings hinsichtlich strategischer Lösungsfindung, Führung in ungewohnter Umgebung, Change Management oder Diversity Bias.
Was passiert denn da?
Was passiert denn nun bei den Trainings tatsächlich? Antz-Hieber umreißt die "Versuchsanordnung" zunächst allgemein als Kombination klassischer Coaching-Methoden und praktischer Übungen mit je nach Anforderungen individuell angepassten Methoden. Reflexion und Feedback der Trainer zu den Übungen seien dabei wesentlich, sie sollen Handlungs- und Verhaltensalternativen aufzeigen.
Werden nun Trainees für Führungspositionen in einem global agierenden Unternehmen ausgebildet, die projektorientiertes und auch konzeptübergreifendes Wissen mitbekommen, aber ebenso Sozial- und Führungskompetenzen entwickeln sollen, sieht ein Dunkeltraining z.B. so aus: "Jedes Teammitglied erhält ein oder mehrere Bausteine, daraus soll in 10 Minuten ein gemeinsames Bauwerk erstellt werden. Die Teilnehmer müssen das alles in der richtigen Reihenfolge durchführen, die mittels einer Diskussion eruiert wird. Jeder darf dabei nur seine eigenen Bauteile berühren. Nur ein Teammitglied baut, der Trainer bestimmt den Erbauer und beobachtet, ob alle Regeln sowie die richtige Reihenfolge eingehalten wird."
Nur durch präzise Kommunikation und aktives Zuhören sind solche Aufgaben im Dunkeln zu bewältigen. Kooperation ist die Voraussetzung für Erfolg, dafür muss aber zuvor eine gemeinsame Strategie, eine abgestimmte Vorgehensweise und ein strukturierter Lösungsprozess gefunden werden. "Dabei wird der richtige Umgang mit Unsicherheit und Druck, der Umgang mit Wettbewerbssituationen sowohl innerhalb der Teams als auch zwischen verschiedenen Teams geübt. Die Übungen trainieren das Führungsverhalten: Wird Verantwortung/Führung übernommen? Welche Form von Führung findet statt? Wie etabliert sie sich? Wird sie anerkannt? Gespiegelt wird die Abweichung des Fremdbildes vom Selbstbild: Wie ist die Außenwirkung? Wie hoch ist die Bereitschaft zur Selbstreflexion?", umreißt Antz-Hieber die Trainingsintentionen.
Mit durch die Dunkelheit geschärften Sinnen entdecken die Teilnehmer dabei schnell, wie sehr jeder auf die Hilfe des anderen angewiesen ist, stellen das "wir" in den Mittelpunkt. Aufgaben können nur gemeinsam gelöst werden. Man hört dem anderen aufmerksam zu, manche lassen sich führen, andere entdecken, dass sie gut durch die Aufgaben führen können.
Was hängen bleibt
Antz-Hieber ist überzeugt von der Nachhaltigkeit der Dunkeltrainings: "Ein Tag Training im Dunkeln ist mindestens so effektiv wie drei Tage Training im Hellen. Das liegt daran, dass Führungskräfte und Teams im Dunkeln eine neue Sichtweise auf ihr Team und ihr Verhalten entdecken, mit Konflikten offener und konstruktiver umgehen." Im Dunkeln sei einfach nichts selbstverständlich, jeder Teilnehmer gleich wichtig und für ein gutes Ergebnis unverzichtbar, betont sie. Dabei sei Präzision gefragt, sowohl in der Kommunikation als auch in der Strategie. "All das bleibt nachhaltig hängen und verändert auch im Arbeitsalltag Denkweise und Handlungen", weiß Antz-Hieber. Dass die Teilnehmer auch noch Spaß an den Übungen im Dunkeln haben und stolz auf den Erfolg bei der Bewältigung dieser neuartigen Erfahrungen sind, ist nicht nur ein angenehmer Nebeneffekt, sondern verbessert die Nachhaltigkeit der Trainings.
Im Dunkeln ist gut munkeln, verschwimmen Grenzen, fallen Hemmungen, sagt man auch. Angelika Antz-Hieber beleuchtet diese Effekte anders: "Soziale Regeln bleiben trotz der unvermeidbaren Annäherung auch im Dunkeln bestehen – die Teilnehmer gehen also nicht automatisch vom Sie zum Du über. Sie finden vielmehr gemeinsam zu der Neugier und Begeisterung zurück, durch welche sich Kinder mit Leichtigkeit in extrem kurzer Zeit eine Unmenge an komplexen Sachverhalten und Handlungsmustern aneignen." Und das ist es, was die Dunkeltraining-Seminaristen letztlich in den Arbeitsalltag mitnehmen und was sie dort erfolgreicher macht.
Die Studie: Das Lichtlos-Projekt
Im Mai/Juni 2012 wurden am Institut für Forschung und Transfer der TU Dortmund, unter der Leitung von Prof. Dr. Hartmut Holzmüller, 14 Workshops durchgeführt – einige davon mit Studierenden und andere mit Managern. Die Hälfte der Workshops fand in Lichtlosigkeit, die andere Hälfte im Hellen statt. Jeweils vier bis sechs Teilnehmer nahmen an den 60–120‐minütigen Sitzungen teil und bekamen dabei acht verschiedene Aufgaben gestellt.
Methodik: Die Aufgaben der Workshops umfassten Ausschnitte des "Torrance Test of Creative Thinking (TTCT)" von Torrance (1966) – dem in Europa populärsten Kreativitätstest. Außerdem wurden einzelne Tests von Wallach und Kogan (1965) sowie Guildford (1950) eingesetzt, z.B.: "Nenne alle runden Dinge, die dir einfallen!", "Nenne ungewöhnliche Anwendungen für Kaugummi!" oder "Was würden passieren, wenn Menschen nach Belieben unsichtbar würden?". Pro Aufgabe bekamen die Teilnehmer exakt vier Minuten Zeit. Vor und nach den Workshops mussten sie zudem Fragen zur wahrgenommenen Kreativität, Entspannung, Anregung, Selbstvertrauen, Offenheit etc. beantworten. Insgesamt nahmen 74 Probanden am Experiment teil, davon waren 40 Studenten und 34 Manager.
Auswertung: Fachkundige Juroren mussten dann die so generierten Ideen beurteilen, wobei nicht offengelegt wurde, welche Antworten aus den lichtlosen bzw. den hellen Workshops stammten.
Ziel: Das Dortmunder Projekt sollte untersuchen, inwieweit sich Lichtlosigkeit auf die Kreativität des Menschen auswirkt, da es ansonsten keine empirischen Studien oder wissenschaftliche Beweise dafür gab.
Ergebnis: Die Anzahl der Ideen aus den lichtlosen Workshops war höher, durchschnittlich um fast 30 Prozent. Qualität und Vielfalt dieser Ideen wurden höher bewertet, teilweise deutlich. Bei der Originalität der Ideen und ihrer Ausarbeitung lagen die Teilnehmer der Lichtlos-Workshops zwar nicht ganz so deutlich besser. Allerdings zeigten sich die Lichtlos-Probanden im Gegensatz zu jenen aus den "hellen Workshops" nach dem Experiment deutlich zufriedener, glücklicher, entspannter und sogar abenteuerlustiger. Sie resümierten eher, dass sich die Lichtlos-Workshops für sie gelohnt hätten.
Artikel erschienen am 15. November 2013 In: "Wiener Zeitung", Beilage "Wiener Journal"