Der deutsche Dichter ist Gegenstand einer grandiosen neuen Biographie von Jan Philipp Reemtsma.
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In der Literatur kann einer ohne anhaltende Leserschaft Größe bewahren. So ergeht es einem mit Christoph Martin Wieland, der einer der wichtigsten deutschen Autoren der Aufklärung war - und heute kaum mehr bekannt ist. Er war ein Wegbereiter, nicht zuletzt für Goethe, Schiller und nicht wenige andere Autoren im Umkreis der Weimarer Klassik. Im besten Mannesalter war er einer der meistgelesenen deutschsprachigen Schriftsteller seiner Zeit, doch das verlor sich im Alter erheblich.
Und heute? Ist Wieland für den Literaturliebhaber unserer Zeit nur ein hoffnungsloser Anachronismus? Ein abgedankter Versekönig? Ein muffiger Schlafrockträger? Jan Philipp Reemtsmas mitreißende neue Wieland-Biographie vermag da wie ein schallender Weckruf zu wirken. Nichts Geringeres als "Die Erfindung der modernen deutschen Literatur" schreibt der Untertitel dieser profunden literarhistorischen Arbeit dem Dargestellten zu.
Reemtsmas Faible für Wieland erstreckt sich auf dessen Lebens- wie Werkgeschichte gleichermaßen. Der emeritierte Germanistikprofessor der Universität Hamburg hat sich jahrzehntelang mit dem Autor beschäftigt. Man merkt seiner Darstellung nicht nur das umfassende Wissen, sondern auch die herzhafte Empathie an.
Prinzenerzieher
Wielands Lebensweg beginnt, wie bei so vielen deutschen Dichtern und Gelehrten seit dem 17. Jahrhundert, in einem protestantischen Pfarrhaus. Oberholzheim, wo er 1733 geboren wurde, liegt nahe der Freien Reichsstadt Biberach, wo Wieland aufwuchs und wohin er, nach einem achtjährigen Aufenthalt als Hauslehrer in der Schweiz und Gast im Zürcher Dichterkreis um Bodmer und Breitinger, als 27-Jähriger zurückgekehrt ist.
Zehn Jahre lang blieb er als Stadtschreiber in Biberach. Es ist dies, bei aller kleinstädtischen Enge, die Zeit seiner dichterischen Selbstfindung: Er lässt sich durch die großen antiken Dichter, aber auch durch die Franzosen wie Voltaire und Diderot zu Toleranz, Eros und Humor erziehen. Er bereitet durch seine grundlegenden Prosaübersetzungen der Shakespeare-Dramen den Boden für die unbekümmerte Frische und zupackende Deutlichkeit der deutschen Theaterkunst. Und er erfindet mit der "Geschichte des Agathon" den ersten deutschen Bildungsroman.
"Allerlei Zierrat und Fabuliererei" hat Reemtsma in manchen von Wielands Frühwerken geortet. In Biberach hat sich der Dichter frei geschrieben, aber die lästigen Querelen mit den dortigen Schildbürgern vergällen ihm den Aufenthalt in der schwäbischen Provinz. Später wird er mit ihnen in der "Geschichte der Abderiten", einer im Stil Lukians und Swifts gehaltenen furiosen Satire, abrechnen.
1772 ließ sich Wieland, nach einem Zwischenspiel als Philosophieprofessor in Erfurt, als Prinzenerzieher nach Weimar locken. Wien war zu spät gekommen. Vor allem der Erbprinz Carl August, vierzehnjährig, braucht einen philosophisch versierten Mentor: "Ich bin überzeugt, dass der Weg zu seinem Herzen über seinen Kopf geht. Man mache aus ihm einen aufgeklärten Prinzen, und ich bürge für sein Herz." Das schreibt er der besorgten Mutter, der jung verwitweten Herzogin Anna Amalia.
Und er hat Erfolg. Für ein Jahresgehalt von 1.000 Talern wird er engagiert. Drei Jahre gilt der Vertrag, danach ist eine bescheidene Pension von jährlich 600 Talern vorgesehen. Das Erziehungsziel für Carl August und seinen jüngeren Bruder Constantin entspricht ganz dem politischen Leitstern des Aufklärers Wieland: "Bei den Prinzen hängt alles davon ab, dass sie es sich zur Gewohnheit machen, nie zu vergessen, dass sie Menschen sind und dass sie folglich überall ihresgleichen sehen."
Indes, die Dichterseele will nicht ruhen. Dem Arztfreund Johann Georg Zimmermann in Zürich hatte er, noch aus Biberach, geschrieben: "So will ich fortfahren mit den Musen zu kurzweilen, so lange ich kann; Ich besorge sehr, Sie werden mir Nießwurz’ verschreiben, wenn Sie sehen werden, womit ich mein Hirn abnutze. Aber ich kann nicht helfen, die poetische Tollheit hat nun einmal die Oberhand."
Wieland führt die Feder mit Witz, Eleganz und Leichtigkeit. Gemeinsam mit Lessing, der das Vorurteil des Preußenkönigs Friedrich II., die deutsche Sprache sei plump und grobschlächtig, zu widerlegen wusste, formte er das Deutsche zur modernen, gelenkigen Literatursprache. Er lobte an ihr, "dass sie wachsähnlich u. traktabel und bildsam ist". Der Biograph hebt hervor, welch sprachschöpferische Verdienste sich Wieland, nicht nur als Übersetzer, um die deutsche Hochsprache erworben hat.
Ausdrücke wie Luftgespenster, Liebeswut, Alltagsarbeit, Steckenpferd, Milchmädchen, Weltall, Abschiednehmen oder Weltliteratur sind wie viele andere in den bleibenden Wortschatz eingegangen. Es war nicht zuletzt diese Pioniertat, die Walter Benjamin feststellen ließ, Wielands Werke seien längst in den Humus der deutschen Sprache eingegangen.
Hellwach und klarsichtig
In Weimar entfaltete Wieland seine ganze publizistische Präsenz. Er gründet 1773 nach französischem Vorbild die bald schon sehr populäre Zeitschrift "Der Teutsche Merkur", in der nicht nur Beiträge zu Literatur, Wissenschaft und Philosophie, sondern auch zu politischen und lebenspraktischen Fragen erscheinen. Nicht zuletzt sollte die Herausgabe der Zeitschrift auch zum Lebensunterhalt von Wielands inzwischen vielzählig werdender Familie beitragen. Das kosmopolitisch angelegte Journal verschaffte der kleinen Residenzstadt an der Ilm das Ansehen einer kulturellen Hauptstadt Deutschlands. Ohne Wieland wäre Goethe nie nach Weimar gezogen. Später gesellten sich Herder und Schiller dazu, der Ruhm Weimars zog seine Kreise.
Hellwach begleitet der politische Kommentator Wieland in seinem "Teutschen Merkur" die Ereignisse vor und während der Französischen Revolution. Zunächst vermag er sich für die neuesten Experimente mit dem Ballonfahren zu begeistern, von denen er aus Paris Nachricht erhält. Das sei "die gewisseste Gewähr für die großen Revolutionen, die ich erwarte". Er erkennt weitblickend die Möglichkeiten, die sich aus einer Entwicklung der Luftfahrt ergeben: "Die Folgen dieser Erfindung sind unübersehbar."
Ebenso klarsichtig schätzt er die welthistorische Bedeutung der Französischen Revolution ein, für die er, wie auch Schiller, nachhaltige Sympathien zeigt. Schließlich überrascht er viele, indem er im März 1798, anderthalb Jahre vor dem Staatsstreich Napoleons, die Heraufkunft eines "Diktators auf Zeit" prophezeite, von dem die revolutionären Massen erwarten werden, dass er die Wirren des Staatsnotstands beseitige. Als der Kriegsherr Napoleon dann im Oktober 1808 Weimar besetzt, wird der Herausgeber des "Merkur" unverzüglich unter kaiserlichen Schutz gestellt und eigens zu einer Privataudienz beim "Kaiser der Franzosen" herbeigerufen, die anderthalb Stunden dauert.
In Oßmannstedt nahe Weimar hatte sich der alternde Wieland ein kleines Landgut erworben, wo er sich mit seiner Frau und den inzwischen vierzehn Kindern häuslich einrichtete. Zeitlebens hatte ihn die Sehnsucht umgetrieben, auf dem Lande zu leben. Vorbild war ihm stets das Sabinum des Horaz gewesen.
"Sobald Licht gebracht wird, klären sich die Sachen auf", lautet einer der Kernsätze, die diesen sinnenfrohen Aufklärer zeitlebens vorantrieben. Vergällt wurden ihm die letzten Jahre durch die konkurrenzbedingten Anwürfe vor allem der Brüder Schlegel, die ihn als farbschwachen Nachahmer antiker Muster denunzierten.
Wieland konterte zunächst den "Herren Flegel", resignierte aber bald. Auch Herder, den Wieland nach Weimar empfohlen hatte, fand in ihm wenig respektvoll nur "einen schwachen, guten Märchenträumer" vor. Die Aburteilung als "Vater Wieland", die von den Romantikern übernommen wurde, dauerte über ein Jahrhundert an: Er sei zu leichtgewichtig, zu frivol, zu wenig national gesinnt, hieß es. Kurzum: Es mangle ihm an "höherem Dichtertum". Erst Friedrich Sengle gebot mit seiner groß angelegten Monographie von 1949 der Geringschätzung von Wielands dichterischer Leistung energisch Einhalt.
Erfrischend jovial
Reemtsma erzählt souverän und flüssig entlang der Lebens- und Werkgeschichte dieses Virtuosen in vielen Dichtungsformen. In seinen Urteilen ist er oft erfrischend jovial. "So klingt das nun: wie geplaudert", heißt es da etwa über eine der Verserzählungen. Oder, ein anderes Mal: "Wir müssen nicht ins Detail gehen."
Dennoch: Wielands lebhafte schöpferische Anverwandlung antiker Denkart und Mythologie ist für den heutigen Leser mangels umfassender klassischer Bildung teilweise nur mehr schwer zugänglich. Anders verhält es sich mit seinen Romanen und Verserzählungen. Von dem märchenhaft-phantastischen Versepos "Oberon" ließen sich Generationen von Lesern für die mythologische Figur des gleichnamigen Elfenkönigs und seiner Gemahlin Titania bezaubern. In der heiteren Versnovelle "Musarion" spielt die so schöne wie lebenskluge Titelheldin ihr spöttisches Spiel mit zwei selbstgefälligen Philosophen. Und Wielands rastloser Reisender Agathon entführt in überraschende Gefilde der Selbstsuche zwischen Traum und ernüchternder Wirklichkeit.
Das interessanteste Alterswerk Wielands ist wohl der Roman "Aristipp und einige seiner Zeitgenossen". Hier nimmt es der Autor, wohl auch als Reaktion auf seine napoleonischen Erfahrungen, mit Platons "Politeia" als einem autoritären Staatsmodell auf, das widerlegt werden soll. Zugleich formt er in der Person der selbstbewussten Hetäre Lais eine der hinreißendsten Frauengestalten seiner Dichtkunst. Wieland hat hier erzählerisch das Höchste gewollt und noch einmal zusammengeführt, was er an erotischer Finesse und politischem Weitblick zugleich aufzubieten hatte.
Wieland starb 1813, 79-jährig. Seine letzte Schrift trägt den Titel "Über das Fortleben im Andenken der Nachwelt".
Jan Philipp Reemtsma: Christoph Martin Wieland. Die Erfindung der modernen deutschen Literatur. Verlag C.H. Beck, München 2023, 704 Seiten, 39,10 Euro.
Oliver vom Hove lebt als Dramaturg, Literaturwissenschafter und Publizist in Wien.