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Liebende sind ungerecht

Von Andreas Walker

Reflexionen
Gerechtigkeit ist „eine Göttin, eine Sehnsucht, eine Utopie” (Thomas Macho).
© © BilderBox - Erwin Wodicka

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Ein Gespenst geht um in der Politik: Die Frage nach der gerechten Verteilung von Ressourcen, Zeit und ökonomischen Mitteln. Gerechtigkeit hat insbesondere in der Gesundheitspolitik und Medizinethik Konjunktur, als ginge es darum, eine Schuld zu begleichen. Seit John Rawls’ "A Therory of Justice" (1971) gehört es zum guten Ton ethischer Diskurse, Gerechtigkeit als Endziel gesellschaftlicher Verhältnisse im Blick zu haben. Freilich bleibt ein solches Ziel utopisch. Jüngst hat deshalb der Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften von 1998, Amartya Sen, seine "Idea of Justice" publiziert, um die ideale Theorie von Rawls praktikabler auszuformulieren.

Platon behauptet im "Gorgias", dass es besser wäre, Unrecht zu leiden, denn Unrecht zu tun. Eine Lösung, was Gerechtigkeit sei, legt Platon zwar nicht vor - sie bleibt eine Idee -, aber er vertraut darauf, dass der weise Staatslenker bzw. der Philosoph in der Lage ist, diese Frage in der Praxis zu entscheiden. Aristoteles, dem wir die herrschenden Ansichten über die Gerechtigkeit verdanken, bestimmt im Wesentlichen drei Modi der Gerechtigkeit: Gerecht ist, wer die Gesetze achtet (iustitia legalis), gerecht ist eine proportionale Verteilung der Ressourcen (iustitia distributiva) und ein wechselseitiger Austausch von Vertragspartnern (iustitia commutativa).

Allerdings führt Aristoteles ein äußerst interessantes Moment ein: die Epikie, was mit Billigkeit, Nachsichtigkeit oder "Güte der Gerechtigkeit" übersetzt wurde. Das Gesetz ist allgemein formuliert und weist durch diese Allgemeinheit Lücken auf, da es mithin nicht auf alle Einzelfälle in der Praxis angewandt werden kann. Epikie meint nun die Korrektur des Richters am Gesetz. Ein populäres Beispiel hierfür ist die Entscheidung des 2. Strafsenats des deutschen Bundesgerichtshofes, der am 15. Juni 2010 die Unterscheidungen des Gesetzgebers in aktive und passive Sterbehilfe als zu ungenau bestimmte, da der Behandlungsabbruch durchaus eine aktive Tat sein kann und dennoch straffrei bleiben sollte.

Neben dem Buch von Sen sind in letzter Zeit noch andere Publikationen erschienen, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit dem Thema der Gerechtigkeit befassen.

Der Kulturwissenschafter und Philosoph Thomas Macho nennt sein äußerst lesenswertes Buch "Das Leben ist ungerecht". Es basiert auf der Frühlingsvorlesung 2010 der Reihe "Unruhe bewahren", die u. a. von der Akademie Graz und dem Residenz-Verlag in Graz veranstaltet wird. In der Einleitung kommt Macho ohne Umschweife auf das Elend der Welt zu sprechen: Wohin man auch blickt, überall begegnen den Menschen Katastrophen, Unfälle, Terroranschläge. Die Opfer und Hinterbliebenen der Toten lassen sich nur im Hinblick auf eine Zukunft trösten, dass womöglich ihr Leiden gemindert wird. Dafür gibt es aber keine Garantie. Eine befriedigende Erklärung, warum es ausgerechnet diese Menschen getroffen hat, gibt es auch nicht. Das Leben ist ungerecht.

Eine solche Feststellung ist natürlich trostlos. Substanzieller ist mit der Grund- wie Sinnlosigkeit der Unglücks- und Todesfälle eine Kritik an Gerechtigkeitstheorien formuliert, dass sie "zumeist die Grenzen ignorieren" müssen, "die dem einzelnen Leben gezogen sind." Darin eben seien Gerechtigkeitstheorien ungerecht. Hintergrund von Machos Argumentation ist folglich die Sterblichkeit des Einzelnen, dessen Todeszeitpunkt bei aller Planbarkeit menschlichen Lebens unbestimmt bleibt. Gerechtigkeit und Sterblichkeit bilden somit einen Widerspruch, der sich nicht auflösen lässt, es sei denn durch ein jenseitiges Weltgericht. Zwar gesteht Macho zu, dass es sinnvoll sei, "zwischen politischer, sozialer, ökonomischer, juristischer und existentieller Gerechtigkeit zu unterscheiden", aber "Gerechtigkeit ist keine Tabelle und kein Rechenexempel - sondern eine Göttin, eine Sehnsucht, eine Utopie."

Wo sind die Grenzen?

In der ersten der drei Vorlesungen wird der Frage nachgegangen, was die Grenzen der Gerechtigkeit sind. Bereits der Satz "alle Menschen sind gleich", so führt Macho aus, kollidiere beständig mit der Wirklichkeit. Er macht dies an zwei Sterblichkeitsauffassungen fest. Die eine begreift Sterblichkeit als Lebenserwartung, die sich tatsächlich verrechnen lasse, die andere begreift Sterblichkeit als Existenzial. "Sterblichkeit als Existenzial und die programmatische Durchsetzung sozialer Gerechtigkeit stehen in so radikaler Opposition zueinander, dass alle Kulturen geradezu als Laboratorien betrachtet werden können, in denen an der möglichen Überwindung dieser Opposition gearbeitet wird." Die existenzielle Erfahrung der Sterblichkeit kennt keine ausgleichende Gerechtigkeit, es sei denn post mortem. Konsequent wendet sich Macho im zweiten Vortrag der Theodizee und Pascal zu.

In der Theodizee bedarf angesichts des Schrecklichen nicht der rächende Gott einer Rechtfertigung, sondern der "gütige und barmherzige" Gott. Doch auch existenziell sind "Liebende fast immer ungerecht." Aber, so stellt Macho die Frage mit Bezug auf Camus’ Theaterstück "Die Gerechten", besteht nicht genau darin eine andere Form der Gerechtigkeit? Sonst hieße es nämlich, die "Gerechtigkeit mehr zu lieben . . . als jeden einzelnen Menschen." Die Spannung zwischen Gerechtigkeit und Liebe wird offen gehalten. Die letzte Vorlesung ist folgerichtig eine Meditation über die Apokalypse und die Möglichkeit eines Morgen.

Wo Macho die Frage nach Gerechtigkeit in der Dimension der Existenz verortet, konkretisiert der Mathematiker Rudolf Taschner in seinem Werk "Gerechtigkeit siegt - aber nur im Film" die Thematik auf andere Art. Der Autor behandelt Gerechtigkeit u. a. mit Bezug auf Gleichheit, Generationen, Gesetz und Gnade und stellt schon zu Beginn fest: "Gerechtigkeit ist ein allzu flüchtiges Wort, ein der scharfen Definition unzugänglicher, ein opaker Begriff." Gerechtigkeit ist in der Realität nicht realisierbar und nicht existent, gleichwohl gibt es eine Sehnsucht nach ihr.

Taschner spannt in seinem feuilletonistisch gehaltenen Buch den Bogen von Mozart über Thomas Jefferson hin zu John Rawls, über Bill Gates, Pascal hin zu Franklin D. Roosevelt. Er diskutiert menschliche, ökonomische und juristische Vorfälle, um festzustellen, dass Gerechtigkeit im Zweifelsfall nie das ausschlaggebende Kriterium ist, warum Menschen auf die eine oder andere Art handeln oder warum ihnen das eine oder andere zuteil wird. Zudem wird Gerechtigkeit überbewertet, da sie in den meisten Beziehungen - wie in der Liebe - nicht die entscheidende Rolle spielt. Wie Macho kommt auch Taschner am Ende des Buches bei der letzten, der transzendenten Gerechtigkeit an.

Politik und Willkür

Der Autor schöpft beredt aus einem reichlichen Wissensfundus. Im Zusammenhang mit Jefferson, der eine Affäre mit einer Sklavin seiner Frau gehabt haben soll, taucht die Frage auf, ob Gerechtigkeit eine Strategie bei der Überwindung der ungerechten Natur ist. Mit Bezug auf die Antike stellt sich die Frage nach politischem Willen und politischer Willkür: So hätten die Griechen sehr wohl schon Maschinen bauen können, sahen aber Arbeit im Allgemeinen als minderwertig an und demnach auch keine Notwendigkeit darin, das Leben ihrer Sklaven zu entlasten. Im Hinblick auf die Entwicklung von EDV-Systemen hatte Bill Gates einfach Glück gehabt, dass IBM sein Betriebssystem unterstützte.

Wenn sich Taschner allerdings mit philosophischen Themen beschäftigt, so wird er etwas wortkarg: Die Hegelsche These vom Ende der Geschichte wird mit dem lakonischen Hinweis, die Geschichte sei eine Erfindung, abgetan. Also darf der Leser folgern: Auch das Ende der Geschichte ist demnach eine Erfindung. An dieser und anderen Stellen hätte man gern mehr Argumente gehört und nicht einfach eine lapidare Bemerkung. Auch die Fülle der Informationen geht ein wenig zu Lasten der Intensität der Gedanken, aber der Autor wollte auch keine wissenschaftliche Abhandlung schreiben.

Dass ein anregendes Buch sich nicht auf Fakten berufen, ein Vortrag oder eine Abhandlung sein muss, zeigt eine junge Veröffentlichung des Diaphanes Verlags. 1977/78 hatte Jean-Loup Thébaud die Gelegenheit, bei mehreren Treffen den Philosophen Jean-François Lyotard zu interviewen. "Politik des Urteils" heißt das im Original "Au juste" betitelte Buch. Lyotard sieht wie Macho, dass das Problem der Gerechtigkeit auf verschiedenen Ebenen angesiedelt ist. Eine Theorie der Gerechtigkeit, die die Ungerechtigkeiten beschreibt und vermeint, diese zu beseitigen, die also eine theoretische Beschreibung der Verhältnisse liefert, ändere ihr Sprachspiel, wenn sie zu Anweisungen oder Vorschriften übergehe.

Dieses Problem stellte sich bereits für Kant: Wie komme ich von theoretischen Sätzen zu einer praktischen Anwendung? Kants Antwort lautete: durch die Urteilskraft. Hier greift Lyotard auf den aristotelischen Richter zurück. "Denn wir haben ja gerade keine Regel für die Gerechtigkeit. Gerecht zu sein heißt also nicht, sich an Gesetze zu halten." Von Fall zu Fall müsste das Gerechte ohne Rückgriff auf einen theoretischen Überbau entschieden werden.

Eine Gerechtigkeit im Allgemeinen kann es somit nicht geben, da man von der Theorie hin zur Praxis das Sprachspiel wechselt und es einer Instanz bedarf, die entscheidet. Diese Instanz ist bei Lyotard bewusst transzendent und leer. Im konkreten Fall ginge es darum, sich gegen Ungerechtigkeiten aufzulehnen, ohne dabei eine Entscheidung darüber zu fällen, was für alle gerecht ist.

Das Leben ist ungerecht, Gerechtigkeit existiert nicht: Beide Ansichten sind innerhalb gewisser Sprachspiele wahr. Nietzsche forderte bereits eine andere Gerechtigkeit, die sich nicht an der Äquivalenz von Verteilungen orientiert, die keine Vergeltung will und keinen Ausgleich - eine Gerechtigkeit, die denjenigen Ansichten, die eine ausgeglichene Mitte anstreben, wahrscheinlich ungerecht erschiene.

Aber selbst wenn Gerechtigkeit in der Realität nicht existiert, bleibt sie eine regulative Idee. Jenseits der Austauschformeln ist sie zudem ein Diskurselement, auch wenn die Menschen völlig unterschiedliche Meinungen darüber vertreten, wie Gerechtigkeit zu erreichen sei. Auch wenn man nicht immer weiß, was gerecht ist, so gibt es doch die Empörung, wenn Ungerechtigkeit "schreiend" wird. Spätestens hier könnte die Epikie die Politik korrigieren.

Thomas Macho: Das Leben ist ungerecht. Residenz Verlag, St. Pölten 2010, 104 Seiten.
Rudolf Taschner: Gerechtigkeit siegt - aber nur im Film. Ecowin Verlag, Salzburg 2011, 288 Seiten.
Jean-François Lyotard / Jean-Loup Thébaud: Politik des Urteils. Aus dem Französischen von Esther van der Osten, diaphanes Verlag, Berlin 2011, 160 Seiten.

Andreas Walker, geboren 1971 in Hamburg, ist Philosoph und Autor. Zuletzt erschienen: "Die letzte List" (Passagen Verlag, Wien 2006). Er lebt in Bochum.