In Washington erhielt der afghanische Präsident Ghani stehende Ovationen. Zu Hause wird er wegen Reformverzug und autokratischen Zügen kritisiert.
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Washington/Kabul/Wien. "Das war der herzlichste Empfang in Washington, den wir jemals hatten", sagte ein Mitglied der afghanischen Delegation nach vier Tagen in der US-Hauptstadt hocherfreut. Im Kongress erhielt der afghanische Präsident Ashraf Ghani stehende Ovationen für seine Rede, in der er sich bei den Amerikanern für ihre Opfer während des Einsatzes am Hindukusch bedankte und baldige Selbständigkeit versprach. Und auch dem US-Präsidenten Barack Obama konnte eine Zusage im für die afghanische Delegation wichtigsten Anliegen abgerungen werden: Die US-Truppen werden langsamer als geplant abziehen. Zu Hause hoffen indes immer mehr, dass der Besuch in den USA nun endlich auch für innenpolitische Impulse sorgt.
Zu Jahresbeginn waren vor allem Ghani-Wähler zunehmend sauer, die sich von ihrem seit September im Amt befindlichen Präsidenten schnelle Reformen erwarteten. Mittlerweile drücken aber auch immer mehr Vertreter innerhalb der von Ghani angeführten Einheitsregierung ihr Missfallen daran aus, dass viele wichtige Themen weiter unangetastet am Tisch liegen - darunter die schwer strauchelnde Wirtschaft.
Nur Drittel des Kabinetts steht
Sauer stößt vielen auch auf, dass bis heute lediglich ein Drittel der Ministerposten neu besetzt wurde. Zumindest präsentierte Ghani vor seiner Abreise in die USA eine lang erwartete neue Liste an Ministerkandidaten. Ab nächster Woche soll über sie im Parlament abgestimmt werden. Bereits im Jänner versagte das Parlament jedoch dem Gros der Kandidaten wegen mangelnder Qualifikation oder doppelter Staatsbürgerschaften die Zustimmung. Für den Schlüsselposten des Verteidigungsministers gibt es auch auf der neuen Liste keinen Nominierten. Die Geschäfte führen die Minister weiter, die unter Ex-Präsidenten Hamid Karzai dienten.
Kaum Bewegung gibt es zudem bei der anstehenden, überaus wichtigen Wahlrechtsreform, bei der Ernennung der Provinzgouverneure oder auch über den Zeitpunkt der Parlamentswahlen. Laut Verfassung müssten diese bis Ende Mai stattfinden. Sie wurden jedoch schon auf Oktober verschoben, und manche mutmaßen, dass auch dieses Datum einzuhalten schwierig werde.
Schwierig gestalte sich aber auch die Zusammenarbeit mit Ghani selbst. Hatte er während seiner Wahlkampagne Teamarbeit propagiert, so wird ihm von Kritikern heute vorgeworfen, er würde lediglich eine Zwei-Mann-Regierung anführen. Bei dem zweiten Mann handelt es sich aber nicht um Afghanistans sogenannten CEO Abdullah Abdullah (Abdullah hatte im Streit um den Ausgang der Präsidentschaftsstichwahl den Kürzeren gezogen, einigte sich aber mit Ghani auf die Teilnahme seines Lagers in einer Einheitsregierung), sondern um Hanif Atmar, den Chef des Nationalen Sicherheitsrats. Ghani neige zudem dazu, sich überall einzumischen, autokratisch und intransparent zu agieren.
Als Beweis dafür wird etwa ins Treffen geführt, dass Ghani milliardenschwere Beschaffungsverträge weg von den Ministerien in seine direkte Zuständigkeit gebracht hat. Ghanis Team rechtfertigt sich damit, die Korruption zu bekämpfen. Irritiert hat der Präsident auch damit, dass er kürzlich 300 Staatsanwälte in den Präsidentenpalast zu einem Test einberief, was als unangemessene Einmischung der Exekutive in die Justiz gedeutet wurde. Laut "New York Times" erklärte ein Sprecher Ghanis die Einberufung damit, dass Organisationen der Zivilgesellschaft darauf bestanden hätten.
Überzogene Angst vor dem IS
Ghani versprach in Washington, die durch den verlangsamten US-Truppenabzug gewonnene Zeit für Reformen zu nutzen. Der Großteil der Afghanen ist dafür, dass mehr US-Truppen bleiben, da sie finden, dass sich die Sicherheitslage stetig verschlechtert. Nicht alle aber wollen Gerüchten, Daish (der Islamische Staat, IS) werde in Kabul einfallen, Glauben schenken. "Das sind doch die gleichen alten Taliban", sagt Akhgar, ein Kabuli. Nur wüssten diese, dass sie als Taliban niemanden mehr erschrecken könnten - vor Daish jedoch hätten die Menschen Panik. Experten zufolge haben sich bisher aber nur einzelne Randgruppen der Taliban Daish angeschlossen, die Taliban selbst kontrollieren weiterhin den Aufstand.
Zur Sicherheitssorge trägt auch der tragische Tod der jungen Afghanin Farkhunda bei. Das Mädchen wurde - unter Vorwürfen, sie hätte einen Koran verbrannt - in der Vorwoche von einem Mob in Kabul gelyncht, die Polizei schritt nicht ein. Seither wird in Kabul täglich gegen Gewalt gegen Frauen demonstriert, am Freitag prangerten den Lynch-Mord auch hunderte Mullahs an. Das Vertrauen in die eigenen Sicherheitskräfte sank durch den Vorfall merkbar.