Warum der Westen bei der Lieferung schwerer Waffen an Kiew nicht allzu ängstlich sein muss.
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Wenn es darum geht, der von Wladimir Putins Russland in ihrer schieren staatlichen Existenz bedrohten Ukraine beizustehen, hat sich im Westen ein kleinster Nenner herausgebildet, auf den sich alle verständigen können: Alles müsse verhindert werden, was der Kreml als direkten Kriegseintritt der westlichen Alliierten interpretieren könnte. Denn das beinhalte das Risiko einer direkten Konfrontation zwischen Russland und den US-Verbündeten und damit eines Dritten Weltkrieges.
Das ist grundsätzlich richtig, denn das Risiko eines Atomkrieges wird nur ein Narr sehenden Auges eingehen; so weit ist dieser Argumentation also zu folgen. Sehr fraglich ist freilich, ob die Prämisse stimmt, auf der sie basiert. Nämlich, dass Putin sein Verhalten davon abhängig macht, wie der Westen ökonomisch und militärisch agiert. Unter Experten ist weitgehend Konsens, dass reine Waffenlieferungen, auch von schwerem Gerät, keinen Eintritt in den Krieg darstellen; anders als etwa die Errichtung einer Flugverbotszone.
Leider spricht wenig dafür, dass Putin sein militärische Verhalten tatsächlich von völkerrechtlichen Erwägungen abhängig macht. Der Verlauf des Krieges legt vielmehr nahe, dass er einen Kriegseintritt des Westens behaupten wird, wenn er meint, damit irgendeinen militärischen Schrittes begründen zu können - und ihn so lange nicht behaupten wird, wie ihm das nicht opportun erscheint. Und zwar völlig unabhängig davon, was der Westen tatsächlich tut. Von jemandem, der allen Ernstes behauptet, die Ukraine müsse von den dort regierenden Drogen-Nazis befreit werden, ist genauso zu erwarten, dass er jedes Verhalten des Westens als Kriegsgrund wertet, wenn es ihm gerade dienlich scheint - egal, wie faktenbasiert das auch sein mag.
Wenn man diese Logik akzeptiert, ist die Lieferung von wesentlich stärkeren Waffen an Kiew die zwingende Konsequenz; vor allem auch die Lieferung von Offensivwaffen, mit deren Hilfe die Russen weiter zurückgedrängt werden könnten. Das gilt vor allem für Deutschland, das hier schon viel zu lange zögert.
Die Gefahr der weiteren Eskalation besteht, ist aber vermutlich kleiner, als im Westen allgemein angenommen wird. Einerseits, weil Amerikaner und Russen von Korea über Vietnam bis Afghanistan schon mehrmals militärisch aneinandergeraten sind, ohne dass dies zu Krieg führte.
Vor allem aber "gilt weiterhin das Gleichgewicht des Schreckens," wie jüngst Alexander Vindman, ehemaliges hochrangiges Mitglied des US-Sicherheitsestablishments, in der "Neuen Zürcher Zeitung" argumentierte. "Russland hat keinen Anreiz für einen Atomkrieg. Und ein konventioneller Schlag gegen die Nato wäre ebenso problematisch, denn die Russen stehen ja schon in der Ukraine vor gewaltigen Schwierigkeiten."
Putin, meinte der Russland-Kenner weiter, "ist ein Mensch, der in riesigem Abstand von seinen engsten Beratern sitzt, weil er nicht an Covid erkranken will. So jemand ist kein Selbstmörder, der sich in einen zerstörerischen Atomkrieg stürzen will." Das klingt nicht unplausibel. Mit allen Konsequenzen, die bei aller Vorsicht daraus zu ziehen sind.