Europa-Experte Stefan Lehne: Krisenmanagement der EU bautauf Angst auf
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"Wiener Zeitung": Das Europa der gemeinsamen Werte scheint Vergangenheit. Tatsächlich tun sich seit Ausbruch der Schuldenkrise ungeahnt tiefe Gräben auf, die den Kontinent entlang auch kultureller Linien spalten. Sind Sie über das Ausmaß dieser Zweifel an der Einheit des Kontinents überrascht?
Stefan Lehne: Es war schon immer so, dass sich die Integration der EU in konjunkturellen Wachstumsphasen verstärkte und in Rezessionen verlangsamte, dieses Muster setzt sich in der jetzigen Krise einfach fort.
Nur dass jetzt Stimmen laut werden, die erklären, dass Nord und Süd zu wenig verbinde, um miteinander in eine glückliche Zukunft zu gehen. Das ist doch neu.
Um dies richtig zu beurteilen, muss man auch die Phase vor der Krise betrachten. Damals holte die Peripherie Europas stark auf, nicht nur wirtschaftlich, sondern auch in puncto Lebensstil. Diese Konvergenz war real und für die Menschen spürbar. Jetzt wird das Verhältnis vom Gegensatz Schuldner/Gläubiger bestimmt, bei dem der Interessensgegensatz natürlich fundamental ist - und ein solches Verhältnis verträgt sich natürlich schlecht mit dem Prinzip der Solidarität, das die EU ja auch für sich beansprucht. Dieser grundsätzliche Interessensgegensatz - die einen wollen ihr Geld zurück, die anderen brauchen noch mehr - führt natürlich zuvor nicht gekannten Spannungen.
Werden diese Gräben wieder verschwinden, wenn das Wachstum zurückkehrt?
Entscheidend ist, ob alle finanzpolitischen Maßnahmen, die zuletzt beschlossen wurden, damit sich eine solche Krise nicht wiederholt, auch umgesetzt werden. Sämtliche Beschlüsse der letzten Jahre beruhten auf der Angst vor dem Zusammenbruch der Währungszone. Angst ist aber kein zuverlässiges Fundament. Bezeichnend in diesem Zusammenhang ist, dass der Rat seinem Präsidenten Herman Van Rompuy im Sommer 2012 den Auftrag gegeben hat, ein umfassendes Reformkonzept für die EU, einen Stufenplan für die nächsten zehn Jahre zu erarbeiten. Van Rompuy hat im November ein ehrgeiziges Papier präsentiert. Mittlerweile allerdings hatte sich die Krise entspannt - mit der Folge, dass die EU-Regierungschefs jegliche Lust verloren, auch nur über die Vorschläge zu diskutieren. Mit dem Wegfall des Drucks schwindet auch die Reformenergie.
Und wie ist das mit dem Aufbrechen kultureller Gräben?
In jeder Krise wird die Zahl jener größer, die sich nach der Schutzrolle des Nationalstaats sehnen. Hinzu kommt, dass die Menschen älter werden, mehr Sicherheit einfordern. Kurz gesagt: Das politische Klima begünstigt weitere Integrationsschritte nicht wirklich, sondern behindert sie eher. Die großen Volksparteien schrumpfen, populistische und EU-kritische Bewegungen erstarken. Grundsätzliche Schritte wie Bankenunion, gemeinsame Einlagensicherung, ein eigenes EU-Budget und Eurobonds sind in den EU-Staaten höchst umstritten. Entscheidend wird sein, ob die führenden EU-Politiker diese Pläne auch gegen Widerstände umsetzen können oder sich nicht doch mit den bisher erreichten, primär technokratischen Lösungen zufrieden geben. Ich habe meine Zweifel, ob die Weisheit der Politiker groß genug ist, jetzt die nächsten Schritte zu machen, weil dafür Vertragsänderungen unausweichlich sind. Wahrscheinlicher ist ein fortgesetztes Durchwursteln, bei dem man sich primär auf die Europäische Zentralbank verlässt, die sich als handlungsstärkster Akteur in der Krise erwiesen hat, eben weil sie keiner parlamentarischen Kontrolle unterliegt.
Was sagt das über die demokratische Verfasstheit der Union aus?
Es zeigt vor allem die großen Grenzen auf, die diesbezüglich in Europa vorhanden sind.
Welchen Stellenwert hat Österreich derzeit von Brüssel aus betrachtet?
Ökonomisch sind unsere Leistungen hoch angesehen, was die Krisenpolitik angeht, hat Österreich nicht wirklich ein eigenständiges Profil entwickelt.
Warum gelingt es der EU nicht, außenpolitisch mit einer Stimme zu sprechen?
Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik hat zwar den Anspruch, Europa Außenpolitik zu führen, nur ist sie dazu institutionell nicht in der Lage. Die Gasp ist Sache der Regierungen; Kommission, Parlament und Gerichtshof haben relativ wenig mitzureden. Die Partnerstaaten der EU erwarten sich eine Außenpolitik, die dem globalen Status der EU entspricht; was diese jedoch bekommen, entspricht eher dem Europarat oder der OSZE, ganz einfach, weil deren Strukturen weitgehend jenen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik entsprechen. Das Grundübel liegt darin, dass die Mitgliedstaaten ihre volle außenpolitische Kompetenz beibehalten wollen, statt Kompetenzen nach Brüssel abzugeben.