Der Chef der deutschen FDP betont im Gegensatz zu Konservativen und Grünen die inhaltlichen Differenzen.
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Berlin/Wien. Sogar Horst Seehofer beißt in den ökosauren Apfel. Diese Woche hat der Chef der bayerischen CSU die Parteizentrale der deutschen Grünen betreten - zum allerersten Mal, wie er nicht müde wurde, hervorzuheben. Angesichts der mangelnden Koalitionsalternativen drückte Seehofers Partei in der ersten Sondierungswoche für ein Jamaika-Bündnis mit CDU, FDP und Grünen die inhaltlichen Differenzen weg.
Die Liberalen scheren aus dieser Linie aus, allen voran ihr Vorsitzender Christian Lindner. Zwar betonte er am Freitag, ginge es nur nach Atmosphäre und Ernsthaftigkeit der bisherigen Gespräche, "dann wären wir zu 85 Prozent bereits klar". Doch schob Lindner nach: "Leider ist es bei den Inhalten genau anders herum: Da sind zu 85 Prozent noch Unterschiede zu diskutieren." Tags zuvor stichelte der FDP-Chef gegen die Grünen. Er habe bei deren Verhandlungsdelegation den Eindruck, dass diese wegen unterschiedlicher Sichtweisen und Anschauungen mit sich selbst zu verhandeln habe, ätzte Lindner über die Bruchlinien zwischen Realo- und Fundi-Flügel der Grünen.
Seit der Bundestagswahl vor knapp einem Monat übt sich Lindner in FDP-Regierungsskepsis. Erst packte er die SPD bei der "staatspolitischen Verantwortung", damit sie die schwarz-rote Koalition fortsetzt. Doch die Sozialdemokraten bewegen sich nach dem schlechtesten Ergebnis in der Nachkriegsgeschichte keinen Millimeter weg von ihrem Oppositionskurs.
Lindner ist zwar mit 38 Jahren der jüngste Parteivorsitzende der FDP-Geschichte, hat aber hautnah das Desaster der liberalen Regierungsbeteiligung von 2009 bis 2013 miterlebt - woraufhin die Partei aus dem Bundestag geflogen ist. Koalition ja, aber nicht um jeden Preis, schlussfolgert Lindner daher. Seiner Wiederaufbauarbeit in den vergangenen Jahren verdankt die FDP maßgeblich ihr Comeback, das die Liberalen im September sogar vor Linken und Grünen landen ließ.
Allerdings herrschen nun andere Voraussetzungen als 2013. Damals konnte Angela Merkels Union entweder mit SPD oder Grünen koalieren. Dieser Tage ist Jamaika einzige Option. Denn der linke und rechte Rand im Bundestag, Linkspartei und AfD, kommt weder für Merkel noch für Lindner als Partner infrage.
Maximum bisher: 86 Tage
Möglicherweise will der FDP-Chef mit seinem Bremsen Tempo aus den Verhandlungen nehmen, um nochmals Druck auf die SPD aufzubauen. 86 Tage dauerten bisher die längsten Koalitionsgespräche, 2013, dann war Schwarz-Rot am Ziel. Nun heißt es informell, bis Jahresende solle eine Einigung stehen. Nach dem "allgemeinen Beschnuppern", wie FDP-Vize Wolfgang Kubicki die große Gesprächsrunde der vier Parteien mit 52 Personen am Freitag bezeichnete, soll ab kommender Woche sondiert werden. Bis 2. November sind fünf Treffen in zwölf Themenblöcken angesetzt. Streitpunkte sollen nicht auf die lange Bank geschoben werden, die Unterschiede bei Steuern und der Zukunft der EU, in Klimafragen sowie im Integrations- und Asylwesen werden bald offen zutage treten. Meistern CDU, CSU, FDP und Grüne dennoch diese Hürde, gehen die Sondierungen ab Mitte November in Koalitionsgespräche über - sofern die grüne Führung auf dem Parteitag dafür das Pouvoir erhält.
Finden die vier nicht zusammen und bleibt die SPD in Opposition, steht Deutschland vor Neuwahlen. Eine Wiederholung des AfD-Erfolgs vom September (12,6 Prozent) oder gar noch mehr Stimmen für die Rechtspopulisten mag aber keine der etablierten Parteien riskieren. Und auch nicht Christian Lindner.