Sondierungen über große Koalition: Kanzlerin Merkel muss gestärkte Schwesterpartei CSU bändigen.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 10 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Berlin/Wien. Antäuschen, in Deckung gehen, auf die falsche Fährte führen. Sondieren, paktieren und schließlich koalieren: Drei Wochen nach dem fulminanten Sieg der Konservativen bei der Bundestagswahl starten heute, Freitag, die Gespräche mit den potenziellen Partnern. Die Union aus CDU und CSU bittet die Sozialdemokraten zu Sondierungen, kommendem Donnerstag folgen die Grünen.
Trotz 41,5 Prozent bei der Wahl ist die Ausgangslage für Angela Merkels Konservative nicht bequem: Der Kanzlerin ist der willfährige Koalitionspartner FDP abhanden gekommen, die Liberalen flogen aus dem Parlament. Die CDU-Vorsitzende muss aus zwei ungeliebten Varianten wählen; eine schwarze Minderheitsregierung kommt ebenso wenig infrage wie ein rot-grün-rotes Bündnis.
"Europa schaut auf uns, die Welt schaut auf uns." Viele Lockmittel hat Merkel nicht, also appelliert sie an die staatspolitische Vernunft in Krisenzeiten. Bei der SPD - insbesondere der Basis - stößt die Kanzlerin auf taube Ohren. Vier Jahre in der großen Koalition von 2005 bis 2009 brachten den Sozialdemokraten internationales Lob für die Krisenpolitik, die Lorbeeren bei der darauf folgenden Wahl erhielt Merkel, während die SPD um elf Prozentpunkte abstürzte und ihren historischen Tiefstand von 23 Prozent erreichte. "Es gibt ernst zu nehmende Argumente, die gegen die Neuauflage der großen Koalition sprechen", lässt daher Berlins SPD-Bürgermeister Klaus Wowereit ausrichten. Parteichef Sigmar Gabriel versucht inzwischen, seine Genossen sanft in Richtung CDU zu schieben. Vom Verlauf der Verhandlungen hängt auch ab, ob Gabriel im November als Vorsitzender wiedergewählt wird.
Roter Forderungskatalog
Wenn schon große Koalition, muss die Union einen hohen Preis zahlen: Steuererhöhungen, gesetzlich festgelegter Mindestlohn, Abschaffung des Betreuungsgeldes für Hausfrauen und Investitionen in die Infrastruktur stehen auf dem sozialdemokratischen Wunschzettel. Finanzminister Wolfgang Schäuble signalisierte vor wenigen Tagen Bereitschaft, den Spitzensteuersatz von 42 Prozent anzuheben, nun folgt die Rolle rückwärts: "Der Staat sollte mit seinem Geld auskommen. Das hat auch der Wähler klar bestätigt", sagt der CDU-Politiker in einem "Bild"-Interview.
Auch die Grünen zieren sich, den Mehrheitsbeschaffer zu geben. Derzeit ist die Öko-Partei vor allem damit beschäftigt, die Scherben nach dem Wahldebakel zusammenzukehren. Der stramme Linkskurs ließ die Grünen bei der Wahl auf 8,4 Prozent abstürzen. Die Parteispitze, darunter der maßgeblich für die Niederlage verantwortliche Spitzenkandidat Jürgen Trittin, hat ihren Rückzug angekündigt. Die pragmatischen und bürgerlichen "Realos" um Baden-Württembergs Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann drängen vehement auf einen Kurswechsel, wollen die Grünen nicht länger als SPD-Anhängsel sehen. Kretschmann wurde mittlerweile ins grüne Verhandlungsteam nachnominiert.
Regiert Merkel mit der Öko-Partei, gewinnt die bayerische CSU mehr an Gewicht als unter Schwarz-Rot. Denn ohne ihre 56 Sitze schrumpft die Mehrheit von CDU und Grünen im Bundestag auf lediglich drei Mandate. Bereits den Wahlkampf prägte Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer mit seiner Forderung nach einer Pkw-Maut für Ausländer, nun gibt er mit einem strikten Nein zu Steuererhöhungen die Richtung vor. Nach einer absoluten Mehrheit bei der bayerischen Landtagswahl und über 50 Prozent für die CSU bei der Bundestagswahl treten die Bayern mit stolzgeschwellter Brust auf. Merkel muss neben dem Koalitionspartner auch die eigene Schwesterpartei bändigen.