Zum Hauptinhalt springen

Lissabon löst Berlin an der Spitze der EU ab

Von WZ-Korrespondent Wolfgang Tucek

Europaarchiv

Beitrittsperspektive der Türkei bekräftigt. | Heiße Klimadebatten im Herbst. | Brüssel. Nur noch bis Sonntag sitzt die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel im Chefsessel der EU. Dann folgt Portugals Premier José Socrates.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 17 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Mit der weitgehenden Einigung auf Inhalt und Zeitplan für die anstehende Reform der Union hat Merkel den Vorsitz Deutschlands gekrönt. Den nachfolgenden Portugiesen hat sie ein gewaltiges Arbeitspensum hinterlassen. Nicht nur die Vertragsreform sondern die bereits beim EU-Gipfel im März beschlossenen Ziele zum Klimaschutz werden ihre Konsequenzen im Herbst entfalten.

Kein Kurswechsel ist für künftige Erweiterungen und besonders gegenüber der Türkei geplant: "Alle Beitrittsverhandlungen haben ein Ziel: den Beitritt, wenn alle Kriterien erfüllt sind", kündigte der portugiesische Europastaatssekretär Lobo Antunes am bereits Donnerstag an.

"Spaltung vermieden"

Für Merkel war es indes bereits seit Wochen klar. Mit dem Gelingen der Vorgaben für die EU-Reform steht und fällt die Bewertung ihrer Präsidentschaft. Nun habe sie es geschafft, die Spaltung Europas zu vermeiden, erklärte sie. Den Auftakt hatten schon die Verhandlungen für die Berliner Erklärung zum 50. Geburtstag der Union im März gebildet. Trotz zum Teil erbitterter Gegenwehr stimmten schließlich alle dem Zieldatum 2009 für das Inkrafttreten der Reform zu. Nun gebe es zwar "ein Mandat, aber wir haben noch keinen Vertrag", gab Antunes zu Bedenken. Dessen Fertigstellung sei die oberste Priorität für den EU-Vorsitz Portugals. Andere wichtige Fragen wie die Erweiterung würden bis dahin in den Hintergrund treten. Auch wenn der als deklarierter Gegner des Türkei-Beitritts bekannte französische Präsident Nicolas Sarkozy das Thema aufbringe, habe Portugal "vielleicht dringendere Dinge zu tun."

Dennoch warten einige heikle Angelegenheiten, die Merkel auf den Weg gebracht hat. 20 Prozent weniger Treibhausgase, 20 Prozent weniger Energieverbrauch und mindestens 20 Prozent erneuerbarer Energien bis 2020 konnte die Kanzlerin als Zielmarken für die Union durchsetzen. Vor allem wie das Ziel bei den Erneuerbaren erreicht werden soll, ist Experten immer noch unklar. Mitten in den portugiesischen Vorsitz fallen die Kommissionsvorschläge zur Umsetzung der Ziele und dafür, wie viel jedes EU-Land dazu beitragen muss - harte Verhandlungen sind vorprogrammiert.

Außenpolitisch konnte Berlin wirkliche Fortschritte etwa in den Beziehungen zu Russland oder bei der anstehenden Statusfrage des Kosovo nicht erreichen. Auch wenn der letzte EU-Russland-Gipfel freundlicher als in der öffentlichen Wahrnehmung abgelaufen ist, gibt es weiterhin keine Verhandlungen über eine Annäherung.

Lissabon möchte die Außenpolitik der Union ohnedies mehr nach Süden ausrichten. Afrika und Brasilien liegen den Portugiesen am Herzen und werden in den nächsten sechs Monaten Schwerpunktbereiche der EU sein.