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Ganz schön sind die "Radiogeschichten", werktags um zehn vor zwölf in Ö1. Da wird eine kleine Erzählung vorgelesen, über die man nachdenken und manchmal auch ein bisschen lachen kann. Das Ganze dauert zehn Minuten, überfordert den Menschen also nicht schon am helllichten Mittag. Natürlich sind die Texte von unterschiedlicher Qualität, mal besser, mal schlechter, aber im Ganzen verbinden sie sich zu einer sympathischen literarischen Sendereihe.
Gestern war die satirische Erzählung "Es lebe der Staat" zu hören. Verfasst hat sie der türkische Schriftsteller Aziz Nessin (das ist nämlich auch ein schöner Effekt der Reihe: Man begegnet immer wieder unbekannten Autoren.) In der Geschichte geht es darum, dass ein Mensch schon in seiner Kindheit von den Behörden versehentlich für tot erklärt wird und deshalb seine Existenz nie mehr wirklich beweisen kann. Die staatskritische Spitze des Geschehens besteht darin, dass die Behörden dem Mann das Daseinsrecht immer dann absprechen, wenn er etwas will: eine Erbschaft machen z. B. oder heiraten. Soll er allerdings Steuern zahlen oder Militärdienst leisten, wird der Toterklärte wieder zu den Lebenden gezählt. Schließlich hält der Mann seine zweifelhafte Lage nicht mehr aus und beginnt zu stehlen, denn: "Wer stiehlt, der lebt." So landet er im Gefängnis, was ihm aber als Beweis seiner Existenz ebenfalls willkommen ist.
Das war es im Wesentlichen. Durchaus nichts Weltbewegendes, aber geeignet, zehn Minuten Lebenszeit angenehm zu füllen.