Der Schriftsteller Gerhard Roth wird 70 Jahre alt. Seine Romanzyklen "Die Archive des Schweigens" und "Orkus" bilden einen gewichtigen Monolith in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.
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Nicht nur ein literarischer, sondern vor allem ein persönlicher Triumph - das war die im letzten Jahr erfolgte Publika- tion von "Orkus. Reise zu den Toten". Denn mit diesem über 800 Seiten umfassenden Romanwerk hat Gerhard Roth, in mehrfachem Sinne, das ‚Buch seines Lebens‘ geschrieben. Zunächst repräsentiert der Band den fulminanten Schlussstein seines zweiten Zyklus "Orkus", der 1995 mit dem Roman "Der See" eröffnet wurde.
In dem acht Bände umfassenden Zyklus tritt der Autor Roth schrittweise in seine Erzählwelt ein. "Er war groß, massig, grauhaarig und graubärtig, trug eine schwarzgerahmte Brille und ein schwarzes Sakko" - so wird im Roman "Das Labyrinth" aus dem Jahr 2004 die Figur des "Schriftstellers" beschrieben. Zwar mischt dieser sich zunächst eher spielerisch unter die anderen Romanfiguren, gibt sich dann aber im Epilog als Verfasser des Buches zu erkennen.
Dadurch entsteht eine selbstreferenzielle Schleife, die als erzählerisches Gegenstück zu den augentäuschenden Zeichnungen des Grafikers M. C. Escher verstanden werden kann. Oder wie es im "Labyrinth" an einer Stelle heißt: "Nur im Subjektiven, im sogenannten Literarischen, sehe ich einen Ausweg, das heißt, ich begreife, dass ich mich selbst mit einbringen muss, damit ich der Wahrheit, oder besser gesagt, dem Leben einen Schritt näher komme."
Fakten und Fiktionen
Die Literatur, die Wahrheit, das Leben - in diesem Zitat sind jene Schlüsselbegriffe enthalten, die zur fulminanten zweibändigen Autobiografie von Roth führen. In "Das Alphabet der Zeit", 2007 erschienen, rekonstruiert Roth mit der Verve eines Forschers seine Kindheit und Jugend im steirischen Graz als eine mosaikartige Sammlung von Erinnerungsbruchstücken und Gedächtnissplittern. Ausgehend von seinem frühesten Erinnerungsfragment - einem Fliegerangriff im Jahre 1945, als Roth zweieinhalb Jahre alt war - unternimmt "Das Alphabet der Zeit" nicht nur eine oftmals schmerzhafte Anatomie der Kindheit, sondern ebenso eine rückhaltlose Archäologie der Familiengeschichte; insbesondere was die Verstrickungen der Eltern in den Nationalsozialismus betrifft.
Das letztjährige "Orkus. Reise zu den Toten" setzt die Autobiografie fort, doch nun sind es neben den realen Personen auch die Romanfiguren, die sich zum erzählenden Subjekt Gerhard Roth gesellen. Kein Wunder: Wenn man sich als Autor viele Jahre lang in einem beständig ausdifferenzierten Erzählkosmos bewegt, ist es kaum erstaunlich, dass die Grenze zwischen Fakten und Fiktionen immer durchlässiger wird, weil die Romangestalten ihrem Schöpfer zunehmend als Partner gegenübertreten.
Am Ende löst sich der Autor, in Form seines literarischen Alter Ego, des Untersuchungsrichters Sonnenberg, in einer erzählerischen Volte auf, die in der Literatur ihresgleichen sucht. Wer sich Sorgen machte, dass mit dem Abschluss des Doppelzyklus auch der Schriftsteller Roth an sein Ende gekommen sei, hatte sich glücklicherweise getäuscht. Trotz mancher gesundheitlicher Komplikationen entfaltete er in den letzten zehn Jahren eine beachtliche Publikationstätigkeit, die neben sechs voluminösen Fotobänden auch den jüngst erschienen Sammelband "Portraits" umfasst, in dem er Vorbildern, Weggenossen und Freunden ein literarisches Denkmal setzt.
Obwohl er am 24. Juni seinen 70. Geburtstag feiert, ist Gerhard Roth also alles andere als ein Pensionist, der sich auf seinem beachtlichen Lebenswerk ausruht. Er bleibt Österreich weiterhin erhalten als passionierter Intellektueller, der sich trotz oft massiver Anfeindungen nicht davor scheut, als Ankläger gesellschaftlicher Übel und politischer Missstände aufzutreten. Denn beide Seiten, die des Künstlers und jene des Intellektuellen, sind für ihn untrennbar miteinander verbunden.
Gerhard Roth hat sein ganzes Leben lang durch seine künstlerische Arbeit versucht, die moralische Schuld auszugleichen, die seine Familie im Privaten wie die österreichische Gesellschaft allgemein im Hinblick auf die verleugnete Mitverantwortung für den Nationalsozialismus tragen. Sein Werk repräsentiert ein geradezu monomanisches Anschreiben gegen das ungeheuerliche Schweigen über die Verbrechen, in welchem er aufgewachsen ist. Die Literatur unternimmt dabei den quasi magischen Versuch einer Restitution: Sie kann die toten Opfer nicht lebendig machen, aber sich ihnen zumindest zuwenden, um ihr Gedächtnis zu bewahren.
Es liegt insofern eine Stringenz in der konsequenten Entwicklung, mit der Roth im Umfeld der Zeitschrift "manuskripte" durch experimentelle Prosa (wie sein 1972 erschienenes Debüt "die autobiographie des albert einstein") zunächst seinen Teil dazu beitrug, dass die Grazer die Literatur eroberten, dann aber früher als andere Autorenkollegen erkannte, dass die literarische Avantgarde der Gefahr ausgesetzt war, zur Masche zu erstarren, indem sie sich selbst kopierte. Mit den zumeist in Amerika angesiedelten Reiseromanen in der zweiten Hälfte der Siebzigerjahre wurde Roth zum Erzähler - und entwickelte damit jene Erzählkunst, die seine Romane bis heute auszeichnet: Die oftmals mit Krimi-Mustern unterlegten Bücher unternehmen eine genauigkeitsfanatische Verwandlung von Selbsterlebtem unter Rückgriff auf Notizbuch und Fotografien.
Leben auf dem Dorf
Eine weitere Dimension gewann Roths Schreiben durch die gesundheitlichen Probleme, die ihn zwangen, Ende der Siebziger zur Rekonvaleszenz in die Südoststeiermark zu ziehen. Die damals noch ausgeprägt archaischen Strukturen des Dorflebens wirkten auf den vormaligen Leiter eines medizinischen Rechenzen-trums wie ein Schock. Roth reagierte kreativ: Er erwanderte die Gegend; er schloss Kontakte mit den Provinzlern; er fotografierte und füllte Notizbuch um Notizbuch. Die Entdeckung der Provinz in ihrer unerschöpflichen natürlichen Vielfalt ließen die erzählerischen Dämme brechen.
Der semi-autobiografische Roman "Der Stille Ozean", 1980 erschienen, handelt vom Arzt Dr. Ascher, der sich nach einem Kunstfehlerprozess aufs Land flüchtet und dort - auf den Spuren von Roths eigener Feldforschung - eine neue Welt entdeckt. Von anti-urbaner Verklärung des Landlebens kann in "Der Stille Ozean" aber keine Rede sein. Ascher stößt nämlich auf das beängstigende Fortleben autoritärer Denkstrukturen. Er stößt auf eine latente Gewaltbereitschaft, die sich jederzeit entladen kann. Ihren Ausdruck findet diese in einer allgegenwärtigen Lust am Jagen, Quälen und Töten, welche in unübersehbarer Verbindung steht mit dem kollektiven Gewaltausbruch des Faschismus, der freilich auf dem Land ebenso einem kollektiven Schweigegebot unterliegt.
Große Projekte
"Der Stille Ozean" wurde so zur Keimzelle jenes erzählerischen Projekts, mit dem Gerhard Roth den Versuch unternahm, am Beispiel unseres Heimatlandes, die untergründigen soziologischen Strukturen, historischen Prozesse und psychischen Verdrängungsmechanismen freizulegen, die im 20. Jahrhundert zur Katastrophe geführt haben. Strukturen und Mechanismen, die bis heute als sozialpathologischer Komplex virulent bleiben.
Nicht von ungefähr gab Roth seinem Zyklus den Titel "Die Archive des Schweigens", denn er öffnete darin die verdrängten, verleugneten, verschwiegenen Archive, in denen sich die Abgründe der österreichischen Seele auftaten. Sein Zyklus holte den Wahnsinn der österreichischen Geschichte an die Oberfläche, machte sichtbar, was man nicht sehen wollte. Das Endergebnis nach zehn Jahren harter Arbeit war ein heterogenes und doch zugleich austariertes Konstrukt aus sieben Bänden. Den Büchern, die auf dem Land spielten, kontrastieren jene Bände, die in der Hauptstadt Wien angesiedelt sind.
Die teilweise ins Phantastische ausgreifenden fiktionalen Passagen finden ein Gegengewicht in dem dokumentarischen Protokoll der Lebensgeschichte eines jüdischen Wieners, der 1938 vor den Nazis fliehen musste und nach dem Krieg in seine Heimatstadt zurückkehrte, dort aber ein erschreckendes Fortbestehen des Antisemitismus vorfand.
Als dann 1995 der Roman "Der See" erschien, löste dieser die Farce einer parlamentarischen Anfrage "betreffend der Attentatsphantasien des Schriftstellers Gerhard Roth" aus, mit der freiheitliche Abgeordnete den perfiden Versuch unternahmen, ihn öffentlich zu diskreditieren und finanziell zu schädigen, u.a. durch die Rückforderung staatlicher Preisgelder. Was war geschehen?
Paul Eck, der unter dem Einfluss von Tabletten stehende Pro-tagonist von "Der See", erwägt an einer Stelle des Romans, einen lediglich als "Hoffnungsmann" bezeichneten Politiker bei einem öffentlichen Auftritt zu erschießen. (In der Verfilmung des Romans durch Roths Sohn, den Regisseur Thomas Roth, wird dieser zwischenzeitlich tatsächlich vorzeitig aus dem Leben geschiedene Politiker übrigens von Alfons Haider gespielt!)
"Der See" legte zugleich den Grundstock für das zweite groß angelegte Erzählprojekt. Wie der mythologische Name verrät, basiert der "Orkus"-Zyklus weitgehend auf dem klassischen Muster der abendländischen Epik - der Irrfahrt des Odysseus. Bei James Joyce, im "Ulysses", ist es Leopold Bloom, der als moderner Odysseus durch sein Dublin des frühen 20. Jahrhunderts stapft.
Von Gerhard Roth hingegen werden jeweils unterschiedliche Protagonisten in den von 1998 bis 2004 veröffentlichten Romanen "Der Plan", "Der Berg", "Der Strom" und "Das Labyrinth" auf gefährliche Irrfahrten durch die Welt geschickt: ans andere Ende des Globus’ (in Länder wie Japan oder Ägypten), aber auch nach Europa (in Gegenden wie der Insel Madeira und den Berg Athos) verschlägt es die Romanfiguren.
Wiederholt greift Roth im "Orkus" mythologische Muster auf, nimmt aber ebenso dezidiert Bezug auf Kerntexte der europäischen Literatur wie Dantes "Divina Commedia" oder Cervantes’ "Don Quijote", aber auch auf moderne Klassiker, wie Herman Melvilles "Moby Dick" oder Fernando Pessoas "Buch der Unruhe". Dadurch ist der gesamte Hallraum unserer Kultur präsent; es öffnen sich allenthalben erschreckende Falltüren in die Unterwelt und zugleich berückende Ausblicke in das Transzendente, das unsere Gegenwart unverändert begleitet, selbst wenn wir weitgehend verlernt haben, es wahrzunehmen.
Literarische Vielfalt
Augenöffnend ist Gerhard Roths Schreiben mithin in mancher Weise. Nicht nur aufgrund ihres eminent aufklärerischen Charakters, was die literarische Analyse der Deformationen der österreichischen Geistesverfassung betrifft, denen er - in einem übertragenen Sinne - mal als Archäologe, mal als Ethnograph, mal als Anatom und mal als Historiker auf den Leib gerückt ist. Damit geht eine beachtliche literarische Vielfalt in beiden Zyklen einher.
Wahrheitsverpflichtete Schreibweisen treffen auf pure Fiktion; traditionelles Erzählen auf surrealistische Passagen; Dokumentation auf poetische Entgrenzung; es kommt zur Vermischung von Bild und Text - kurzum: mit beständiger Experimentierfreude sucht Gerhard Roth nach innovativen Formen literarischer Darstellung von äußerer Wirklichkeit wie inneren Wahnzuständen. Sein Werk hat kein Pendant in der österreichischen Literatur.
Uwe Schütte ist Dozent für Deutsche Literatur an der Aston University in Birmingham.
Gerhard Roth: Portraits. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2012, 318 Seiten, 20,60 Euro.- : Orkus. 8 Bände in Taschenbuch-Kassette.. S. Fischer, Frankfurt 2012, 3600 Seiten, 81,30 Euro.