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Lob der Einbildungskraft

Von Otto A. Böhmer

Reflexionen

Das Jahr 1968 kam mir rascher abhanden, als es nötig gewesen wäre - ein persönlicher Rückblick auf Tage des bemühten Individualismus inmitten kollektiven und politischen Geschehens.


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Flower-Power?
© Illustration: Jugoslav Vlahovic

"Das Gedächtnis, ein Sieb", schrieb der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger mit Blick auf sein "Tagebuch aus dem Jahre 1968". Wohl wahr. Wobei sich hinzufügen lässt, dass dieses Sieb auch für andere Jahre gilt, über die wir uns rückblickend beugen:

Viel bleibt da hängen, wenn man in der Begünstigung steht, sich noch halbwegs ordentlich erinnern zu können; viel mehr geht uns allerdings verloren, was indes auch als Segen gelten darf: Der Zuspruch des Vergessens kann wohltuend sein; man sieht sich nicht mehr mit Dingen und Geschehnissen behelligt, für die man, insgesamt, vielleicht ohnehin zu begriffsstutzig gewesen wäre.

Was 1968 angeht, so ist das Jahr mitsamt der dazugehörigen Bewegung, die womöglich gar keine Bewegung war, vor allem deswegen ins Bedenken aufgerückt, weil sich damit ein halbrundes Jubiläum verbindet, zu dem sich Kluges und weniger Kluges sagen lässt; die Jubiläumsfeier selbst, kann man sagen, ist bis jetzt zufriedenstellend verlaufen, und man hat dabei, nicht ohne leise Rührung, wieder von Veteranen gehört, die als verschollen galten.

"1968, eine Jahreszahl, in der sich das Imaginäre eingenistet hat", resümiert Enzensberger. "Ein Gewimmel von Reminiszenzen, Allegorien, Selbsttäuschungen, Verallgemeinerungen und Projektionen hat sich an die Stelle dessen gesetzt, was in diesem atemlosen Jahr passiert ist. Die Erfahrungen liegen begraben unter dem Misthaufen der Medien, des ‚Archivmaterials‘, der Podiumsdiskussionen, der (. . .) Stilisierung einer Wirklichkeit, die unter der Hand unvorstellbar geworden ist."

Philosophie in Freiburg

Mein 1968 begann mit einem Jahr Verspätung. Aus Münster war ich nach Freiburg gewechselt, um dort, anhaltender Ratlosigkeit geschuldet, Philosophie zu studieren. Vorher war es noch Germanistik gewesen, ein Fach, das von Lehrenden vertreten wurde, die mir meine gerade noch vorhandene Liebe zur Literatur auszutreiben drohten. Wollte ich nicht; deswegen die Absetzbewegung zur Philosophie, von der ich mir Antworten auf Fragen, die ich bisher noch nicht gestellt hatte, sowie die Stabilisierung eines Weltbildes erhoffte, in dem ein kleines Ich hockte, das sich mehr um sich selbst als um eine Welt kümmerte, an der es damals wie heute viel auszusetzen gibt.

Der bemühte Individualismus, den ich pflegte, hinderte mich nicht daran, auf der richtigen Seite zu sein: Die politischen und gesellschaftlichen Ziele, denen Wortführer, die allesamt nicht in Freiburg residierten, Ausdruck verliehen, waren auch die meinen; ich war so links, wie man es damals, im anmaßenden Durchschnitt, eben war, und hatte weiter meine Ruhe. Mühe gab ich mir aber auch, studierte in kleinen Lesegruppen die Marx’schen Schriften, die mir so sperrig vorkamen, wie sie es immer noch sind.

Der Lese-Elan, ohnehin nicht sonderlich ausgeprägt, erlahmte schnell. Auch die Schriften der amtierenden Wortführer einer Revolution, die nicht kommen konnte und wollte, sprachen mich nicht an; ich meinte einen Verlautbarungsjargon herauszuhören, der Wahrheiten umkleidete, die sich noch gar nicht recht vorgestellt hatten. Einmal überwand ich meine hauseigene Behäbigkeit und nahm an einer Demonstration teil, von der ich nur noch weiß, dass es sie gab, aber nicht mehr, wogegen sie sich richtete.

Die Demonstranten marschierten über abgesperrte Straßen; am Wegesrand standen Wutbürger und riefen einem Unfreundliches zu. Wiederkehrend die Empfehlung, doch "nach drüben" zu gehen, womit die DDR gemeint war, der damals noch keiner anmerkte, dass sie schmählich zugrunde gehen würde. Beim Mitmarsch für eine gute Sache, die mir durchs Erinnerungssieb gerutscht ist, befielen mich spätestens auf halber Strecke massive Beklemmungen.

Innerer Hausmeister

Was wird hier eigentlich gespielt, fragte ich mich und hatte wieder den Wunsch, auf Distanz zu gehen; diesmal sollte es allerdings auf längere Sicht sein. In der Folgezeit machte mir anhaltendes Ungenügen zu schaffen: Die Texte der selbsternannten Avantgarde gefielen mir nicht, auch weil ich wohl schon immer einen unangenehmen Hang zum Geschmäcklerischen hatte. Und was in Freiburg im Rahmen des Philosophiestudiums angeboten wurde, dem ich noch immer nachkam, war ebenfalls nicht so ganz meine Sache. Ich fühlte mich unterversorgt, bis ich begriff, dass der Urheber für meine unguten Gefühle in mir selbst hockte: ein Hausmeister, der sich über Gebühr groß machte und noch nichts geleistet hatte.

Das erfolgreichste Buch des Philosophen Peter Sloterdijk hat den Titel "Du musst dein Leben ändern" und war damals noch nicht erschienen, aber ich folgte ihm, ohne es zu kennen. Ich begann mit einer Dissertation, legte eine elend lange Lektürestrecke zurück, an deren Ende ich wenig Neues über den sehr deutschen Denker Johann Gottlieb Fichte herausgefunden hatte, der speziell in jungen Jahren, vorsichtig vereinnahmend, das Ideal einer "Tathandlung" propagierte, die als Begriff und mit anderen Inhalten befrachtet auch in gewissen Sektionen der 68er Anerkennung fand.

Marx für Schelling

Ich promovierte, das sei am Rande vermerkt, nicht etwa mit Summa cum laude, wie man es hätte vermuten müssen, sondern mit Ach und Krach. Egal. Meine Doktormutter, der ich insgesamt nicht viel Freude gemacht habe, war dem ehrbaren Freiburger Klüngel voraus, weil sie in ihren Seminaren Schriften behandelte, die als leicht subversiv galten: Sie sprach mit ihren Studenten über Adorno und Habermas, aber dadurch wurde nichts besser.

Der amtierende Heidegger-Nachfolger, der Marx hieß, mit seinem damals besonders berühmten Namensvetter aber nichts am Hut hatte, behandelte lieber die deutschen Idealisten, nicht so sehr Fichte, den er für einen überschätzten Autodidakten hielt, sondern, mit Bevorzugung, den Philosophen Schelling, der womöglich der originellste Kopf einer schmal bemessenen Geistesepoche war, in der man der Freiheit, aus Ermangelung tatsächlicher Alternativen, vor allem mit schwerem Theoriegepäck nachstieg, das sich indes, in wunderbaren Momenten, abstreifen ließ, und dann stand man allein da und fühlte sich wie aufgehoben.

Amtsführender Revolutionstheoretiker: Herbert Marcuse (1898-1979).
© ullstein bild

Irgendwann widerfuhr das auch mir; ich begriff, dass kein Ich etwas dafür kann, wenn es Stress macht und keine Ruhe geben will. Dennoch oder gerade deswegen will es angenommen werden, so wie auch das Leben anzunehmen ist, in dem sogar die Freude überwiegen kann, obwohl ansonsten der Rilke-Satz gilt: "Wer spricht von Siegen, überstehn ist alles". Oder, in einer deutlich geschmeidigeren Variante, die von Hölderlin stammt: "Es ereignet sich aber das Wahre."

Marcuses Einsicht

Irgendwann bin ich angekommen, und in der Rückschau meine ich: es war gut so, auch wenn der Erinnerung, wie wir nicht nur von Enzensberger wissen, noch immer nicht zu trauen ist.

1968 kam mir schneller abhanden, als es nötig gewesen wäre. Ein bisschen mehr Interesse, auch Engagement hätte nicht geschadet. Zu spät. Gemerkt habe ich mir eine Einsicht von Herbert Marcuse, den ich, aus sicherer Entfernung, immer für den Besten unter den Revolutionstheoretikern gehalten habe. Marcuse lobte, zeitlos gedacht, die Einbildungskraft: "Kraft ihrer einzigartigen Fähigkeit, einen Gegenstand auch ohne dessen Vorhandensein ‚anzuschauen‘, auf Grund des gegebenen Materials der Erkenntnis doch etwas Neues zu schaffen, bezeichnet die Einbildungskraft einen hohen Grad der Unabhängigkeit vom Gegebenen, der Freiheit inmitten einer Welt von Unfreiheit. Im Hinausgehen über das Vorhandene kann sie die Zukunft vorwegnehmen."

Vielleicht ist es aber auch ganz anders: Der Frankfurter Philosoph Schopenhauer, schon immer querstehend zu bewährten Ansichten, dem das hektische Jahr 1968 sicher noch mehr missfallen hätte als sämtliche Jahre davor und danach, behauptete: "Die Gegenwart allein ist wahr und wirklich. (. . .) In der Vergangenheit hat kein Mensch gelebt, und in der Zukunft wird nie einer leben."

Womöglich hat also 1968 gar nicht stattgefunden. Darüber dürfen wir, wie über anderes auch, weiter nachdenken. Da passt es, dass das nächste, in diesem Fall sogar echt runde Jubiläum kurz bevorsteht: Es gilt dann nämlich, das hundertjährige Bestehen von 1968 zu feiern. Wenn man mich fragte, würde ich, obwohl zwischenzeitlich zum Abberufenen befördert, noch einmal mitmachen, um mich ein letztes oder vorletztes Mal von oben herab zu äußern.

Otto A. Böhmer, geboren 1949, ist promovierter Philosoph, war viele Jahre Lektor (u.a. bei Suhrkamp) und lebt als Schriftsteller in der Nähe von Frankfurt am Main. Im Juli erscheint sein neuer Roman: "Frei nach Schopenhauer".