Für Heiner Flassbeck gräbt sich die EU ihr Grab, wenn Italien wie Deutschland wird.
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"Wiener Zeitung":In der vergangenen Woche hat der britischer Premier David Cameron mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit eines der zentralen Prinzipien der EU infrage gestellt. Auch in anderen Ländern gibt es Tendenzen zu einer Renationalisierung der Union. Brauchen wir mehr oder weniger Europa, um aus der Krise zu kommen?Heiner Flassbeck: Wir brauchen ein anderes Europa. Mehr kann oft weniger sein und umgekehrt. Wir können nicht einfach sagen, wir sind für oder gegen Europa. Ich bin zum Beispiel immer sehr für Europa gewesen und bin im Moment sehr kritisch demgegenüber eingestellt, was gerade passiert. Es kommt auf die wirtschaftspolitische Ausrichtung an und die ist im Moment falsch. Im Augenblick wird über einen Wettbewerbspakt diskutiert und die zentralen Fragen kommen da gar nicht vor.
Die Initiative "Europa geht auch anders", die Sie unterstützen, hat diesen geplanten Wettbewerbspakt für Europa stark kritisiert. Was ist denn so schlecht an mehr Wettbewerbsfähigkeit? In den vergangenen Jahren wurden die diesbezüglichen Unterschiede in den einzelnen Ländern ja gerade als zentrales Element der Krise ausgemacht.
Schlecht daran ist, dass es nicht funktioniert, dass alle wettbewerbsfähiger werden. Wir haben diese Krise natürlich, weil wir diese Unterschiede in der Wettbewerbsfähigkeit haben. Deutschland ist vorangegangen und hat - wie auch Österreich - seine Wettbewerbsfähigkeit verbessert. Die anderen haben sich verschlechtert. Wenn wir alle nun das Gleiche machen und wettbewerbsfähiger werden, dann wird der Euro gegenüber anderen Währungen aufwerten und wir bekommen Deflation, weil überall die Preise sinken. Das hilft dann überhaupt nicht, Europa muss als Ganzes wachsen. Bisher haben sich vor allem Irland, Spanien, Portugal und Griechenland angepasst und ihre Wettbewerbsfähigkeit verbessert. Wir haben gleichzeitig aber gesehen, dass dieser Prozess der Lohnkürzungen in Südeuropa extrem teuer war und zu mehr Arbeitslosigkeit geführt hat. Wenn Italien und Frankreich jetzt das Gleiche versuchen, würde auch dort die Arbeitslosigkeit steigen und die Rezession tiefer werden. Ich lebe in Frankreich und kann Ihnen sagen, das würde die Regierung nicht überleben. Und in Italien würden wir wohl das Phänomen sehen, das wir auch schon aus anderen Ländern kennen, nämlich dass die Menschen beginnen, radikal zu wählen. Und wenn Europa scheitert, dann wählen die Menschen national, das ist ganz klar.
Sie waren ja selbst Mitglied einer Regierung, die dann in weiterer Folge wettbewerbssteigernde Maßnahmen mit der Agenda 2010 umgesetzt hat. Diese wurden in der Vergangenheit aber als Schlüssel für den deutschen Erfolg gesehen.
Ja, weil Deutschland und Österreich die Einzigen waren. Wenn einer das tut, kann das funktionieren, doch es können nicht alle gleichzeitig tun. In Europa haben wir alle nicht begriffen, dass wir ein neues Wirtschaftssystem brauchen. Wir waren alle kleine, relativ offene Volkswirtschaften und jetzt sind wir aber eine große geschlossene Volkswirtschaft. Und wir haben in Europa insgesamt einen geringen Exportsektor und müssen daher unseren Binnenmarkt beleben. Aber das geht nur, wenn die Löhne steigen. Diese müssen genauso wachsen wie die Produktivität, damit wir die Nachfrage haben, die zu unserer Produktivität passt. Und diese Transformation haben wir nicht begriffen. Wenn wir diese einmalige Chance nicht ergreifen, dann ist Europa verloren.
Ihr Rezept wären also vor allem Lohnsteigerungen?
Eine normale Entwicklung der Löhne, ja. In Deutschland sind seit 15 Jahren die Reallöhne nicht gestiegen. Wodurch ist das gerechtfertigt? Die Produktivität ist jedes Jahr um 1,5 Prozent gestiegen, die Löhne sind gar nicht gestiegen. Die niedrigen Löhne waren ja nur der Versuch mehr Beschäftigung zu schaffen, doch das hat nicht funktioniert, das Einzige, was wir getan haben, war Arbeitslosigkeit in den Süden zu exportieren. Und dass das keine Lösung ist, zeigt sich jetzt. Die Agenda 2010 war ein grandioser Misserfolg. Und wenn man ehrlich wäre, müsste man jetzt sagen, Deutschland und Österreich müssen rauf mit den Löhnen, damit wir in nicht-deflationärer Weise aus dieser Krise kommen. Nur das ist ja vollkommen tabu.
Unternehmer würden jetzt mit dem Weltmarkt argumentieren.
Wenn die Löhne steigen, bekommen wir wie gesagt Binnenmarkteffekte. Auf Dauer haben wir zwar auch negative Exporteffekte, aber diese sind ohnehin unabänderlich. Wenn der Euro zusammenbricht, dann hätten wir diese Effekte sofort. Der Deutsch-Österreichische Euro würde um 30 bis 40 Prozent aufwerten und alle diese Unternehmen sind in ein paar Tagen platt.
Dann müssten Sie jetzt also zumindest ein wenig Freude mit der neuen deutschen Bundesregierung haben. Denn da gibt es ja jetzt zumindest einen Mindestlohn.
Der Mindestlohn ist ein kleines Trostpflaster auf der großen Wunde. Das ist aber nicht der Wurf, der Europa rettet. Das hätte eine ganz eine andere Dimension der Diskussion der Probleme benötigt. Wir hätten ein Ende der Austeritätspolitik gebraucht. Wir hätten die Debatte gebraucht, wie kommen wir wieder zu steigenden Einkommen, wie bekommen die Menschen wieder Zukunftsvertrauen, wie bekommen wir die Menschen dazu, wieder vernünftig zu konsumieren? Nichts davon steht im Koalitionsvertrag.
Es gibt aber auch Anzeichen der Hoffnung. Spanien kommt endlich wieder aus der Rezession, die Griechen erzielen Primärüberschüsse im Budget. Ist das Ihrer Ansicht nach nur ein Strohfeuer?
Strohfeuer ist der falsche Ausdruck. Natürlich wird die Rezession nicht ewig weitergehen, wir erreichen irgendwann den Boden. Wenn man jetzt vernünftig wäre und etwas Ankurbelung machen würde, könnte das zu Wachstum führen. Nur Wachstum ist überhaupt nicht selbstverständlich. Diese Länder haben jetzt 25 Prozent Arbeitslosigkeit, die brauchen 20 oder 30 Jahre hohes Wachstum, um die Arbeitslosigkeit wieder auf 10 Prozent runter zu kriegen. Jetzt kommt die eigentliche Aufgabe, nämlich Wachstum zu generieren, und da sind wir in Europa schwach. Die Fiskalpolitik darf nichts tun, die Löhne dürfen nicht steigen, die Geldpolitik ist ausgereizt, ja wie generieren wir denn Wachstum?
Und wie generieren wir Wachstum?
Indem wir irgendwo einen Impuls setzen. Irgendeiner muss etwas nachfragen, wenn keiner nachfragt, stagniert die Wirtschaft. Wir haben das in Japan gesehen, 20 Jahre Stagnation und Deflation. Das ist auch das wahrscheinlichste Szenario für Europa. Nur das wird Europa politisch nicht überleben.
Wettbewerbspakt
Zur Person
Heiner Flassbeck war 1998 und 1999 in Deutschland Staatssekretär unter Oskar Lafontaine und gehörte der ersten Regierung Schröder an. Von 2003 bis 2012 war er Chefökonom der UNO-Konferenz für Handel und Entwicklung.
Der Wettbewerbspakt, über den beim EU-Gipfel am 19. und 20. Dezember diskutiert werden soll, geht auf eine Initiative der deutschen Kanzlerin Angela Merkel zurück. Ähnlich wie beim Fiskalpakt soll es auch hier verbindliche Verträge zwischen der Kommission und einzelnen Mitgliedsstaaten geben. Kritiker wie das globalisierungskritische Netzwerk Attac fürchten, dass der Pakt Einschnitte im Arbeitsmarkt, bei öffentlichen Dienstleistungen, beim Pensionssystem und in der Ausbildung bringt.