Ein Lebemann, Liebling der Frauen, eleganter Tänzer, starker Raucher, Soldat, Revolutionär, knisternd vor Lebendigkeit, Kampfeslust, Witz und Einfällen - und ein rasender Reporter.
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Er sei ein Lokalpatriot, behauptete Egon Erwin Kisch, "ein Patriot aller Lokale der Welt". Der weitgereiste, in der Zeitgeschichte sowohl topografisch als auch ideologisch herum rasende Journalist, Reporter, Publizist, Schriftsteller, Roman- und Bühnenautor war nicht nur Beobachter, sondern auch Mitgestalter, ein Bewegter und Bewegender. Sein Lebensstil nahm den des modernen, globalisierten Menschen gewissermaßen vorweg.
Man möchte meinen, dass so ein Kosmopolit keine Heimat habe, oder vielmehr überall zuhause sei. Vom Sohn des deutschsprachigen jüdischen Tuchhändlers Kisch in Prag aber wissen wir es besser: Sein ganzes Leben zog es ihn stets nach Prag zurück, wo er nach einem turbulenten, prallen Leben 63-jährig starb. So schrieb er 1942 im mexikanischen Exil: "Ich habe Prag nie verlassen, so intensiv auch ich mich davon entferne, so intensiv auch ich in allen fünf Weltteilen lebte. Und ich lebe auch jetzt dort."
Kisch hatte aber noch eine zweite Heimat, in die er mindestens so oft zurückkehrte wie nach Prag - das war Berlin. 1905 kam er zum ersten Mal an die Spree, um dort ein Jahr lang die Journalistenschule zu besuchen. 1913 übersiedelt er abermals in die Hauptstadt des deutschen Reiches, wo er am Künstlertheater als Dramaturg arbeitet und für das "Berliner Tageblatt" schreibt. Nur ein Jahr darauf wird er als Korporal der österreichisch-ungarischen Armee an die serbische Front geschickt und dort verwundet.
1921 erfolgt sein neuerlicher Umzug nach Berlin. Als freier Schriftsteller schreibt er für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften, vom bürgerlichen "Berliner Börsen-Courier" bis zur sozialistischen "Roten Fahne". Für den Journalisten war das Berlin der "Roaring Twenties" als pulsierende Metropole und bedeutendes Pressezentrum ein idealer Standort. Von hier aus brach er zu seinen Reisen durch Europa und die ganze Welt auf, wie Besuche in der Sowjetunion, in Algerien und Tunesien, sein längerer, illegaler Aufenthalt um die Jahreswende 1928/29 in den USA und nicht zuletzt in China.
Wie zuvor schon in Wien entwickelt Kisch auch in Berlin politische Aktivitäten. So wird er 1924 Mitglied im Schutzverband Deutscher Schriftsteller (SDS), wechselt 1925 von der KPÖ zur KPD und gründet 1928 den "Bund proletarisch-revolutionärer Schriftseller".
Der Titel seines Buches "Der rasende Reporter" wird zum Synonym für ihn selbst. Auf seiner "Hetzjagd durch die Zeit" entwickelt er einen neuen Reportage-Stil: Von seiner Definition der Reportage als neutralem Tatsachenbericht rückt er ab, stellt ihre Parteilichkeit in den Vordergrund und nutzt sie als revolutionäres Kampfmittel. Er thematisiert zunehmend Ausbeutungsverhältnisse und Entfremdungsprozesse in der modernen Gesellschaft.
Auf den Spuren dieses Ausnahmejournalisten kommt man in die Hohenstaufenstraße in Berlin-Schöneberg, eine belebte Verkehrsader. In dem um die Wende zum 20. Jahrhundert erbauten Haus Nummer 36, einem schmucken Altbau mit Vorderhaus und Seitenflügeln, soll Kisch in einer Wohnung im zweiten Stock viele seiner berühmten Arbeiten geschrieben haben. "Hier lebte in den 20er Jahren der ,Rasende Reporter Egon Erwin Kisch. Durch seine engagierten sozialkritischen Artikel und Schriften setzte er neue Akzente im Journalismus", sagt eine Ehrentafel am Haus. - Doch Zeitgenossen wissen, dass der "Lokal"-Patriot häufiger im ,Romanischen Café anzutreffen war als zuhause. Also doch ein echter Altösterreicher?
Markus Kauffmann, seit rund 25 Jahren Wiener in Berlin, macht sich Gedanken über Deutschland.