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London mit dem Rücken zur Wand

Von Hermann Sileitsch

Politik

Premier Cameron sagt Grundsatzrede zur EU wegen Algerien-Krise ab.


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London. Heute, Freitag, hätte es soweit sein sollen: Der britische Premier David Cameron wollte in den Niederlanden seine mit Spannung erwartete Rede über das künftige Verhältnis seines Landes zur Europäischen Union halten. Am späten Donnerstagabend hat er sie allerdings kurzfristig abgesagt, mit der Begründung, sich stattdessen daheim in London um die Lage nach dem Blutbad auf einer algerischen Industrieanlage mit dutzenden Toten, unter denen sich auch ausländische Geiseln befinden sollen, zu kümmern.

Er ist damit kurzzeitig einem anderen unangenehmen Thema ausgewichen: Cameron will Kompetenzen aus Brüssel zurück in die Nationalstaaten verlagern, wird aber gleichzeitig innenpolitisch zerrieben zwischen der strikt europafeindlichen UK Independence Party und seinem EU-freundlichen Koalitionspartner, den Liberaldemokraten. Sein Regierungspartner und Vize-Premierminister Nick Clegg sowie Oppositionsführer Ed Miliband erklärten am Donnerstag fast wortident, Cameron drohe Großbritannien in Richtung eines EU-Austritts zu drängen. Und seine eigene konservative Partei ist sich in der EU-Frage höchst uneinig.

Die Briten dürften gegenüber der EU auch ökonomisch schlechte Karten haben. Anders als früher argumentiert London nicht aus einer Position der Stärke. Zwar sind die Briten weiterhin Europas drittstärkste Volkswirtschaft, der Ausblick ist aber alles andere als rosig.

"Großbritannien konnte sich seit Margaret Thatcher dank seiner starken wirtschaftlichen Position innerhalb der EU im Spiel halten - es war als marktliberaler Außenseiter ein benötigter Gegenpol", sagt Markus Schuller, Investment-Profi von Panthera Solutions in Monaco. Jetzt habe sich das Blatt allerdings gewendet: "Das Land muss sich neu erfinden, weiß aber noch nicht wie."

Was ist geschehen? Die "eiserne Lady" Thatcher verpasste dem Land ab den 1980ern eine radikale Modernisierungskur, die äußerst riskant war - die Briten setzten alles auf zwei Karten: die Finanzindustrie, beispielhaft konzentriert in der City of London, und Rohstoffe.

EU-Weichen auf Integration

Jetzt rächt sich, dass etwa die produzierende Industrie vernachlässigt wurde. Denn die einstigen Boomsektoren Finanzen und Rohstoffe sind mittlerweile auf dem absteigenden Ast: Der aufgeblähte Finanzsektor macht zwar gewaltige 10 Prozent der britischen Wirtschaftsleistung aus - nur in Luxemburg ist er noch größer. Die Zahl der Jobs in der Branche geht aber schon seit 2006 zurück, was sich mit der Finanzkrise noch beschleunigt hat. Auch gehen die Öl- und Gasvorkommen, die seit den 1980ern in der Nordsee ausgebeutet wurden, zur Neige. Seit 2004 ist Großbritannien sogar ein Öl-Nettoimporteur.

Die Zeichen für eine neue Wachstumsstory sind schlecht: Großbritannien ist, nimmt man Staat, Firmen und private Haushalte zusammen, nach Japan das Land mit der zweithöchsten Gesamtverschuldung, hat das Beratungsunternehmen McKinsey errechnet. Dafür ist die Abhängigkeit von der EU größer, als vielen Briten bewusst ist: "Europa" ist der mit Abstand wichtigste Handelspartner. Sollten sich die Briten bockig auf ihre Außenseiterrolle versteifen, könnte der europäische Zug ohne sie weiterrollen.

"Jetzt stehen in der EU die Weichen auf vertiefende Integration, damit die Institutionen stabil gehalten werden", sagt Schuller. "In dieser Lage gibt es in Brüssel kaum noch Verständnis für britische Empfindsamkeiten." Wie sehr London politisch an Gewicht verloren habe, zeigten die Verhandlungen zur Bankenunion: "Die Aufsichtbehörde EBA, die ihren Sitz in London hat, wird der EZB lediglich zuarbeiten dürfen."

Briten-Partner geschwächt

Dafür, dass Großbritannien sich abermals EU-Rosinen herauspickt und Sonderkonditionen ausverhandelt, fehlen Unterstützer: Den Briten kommen ihre traditionellen Partner abhanden. "Polen ist dank seiner ökonomischen Stärke und der politischen Entspannung näher mit Deutschland zusammengerückt", erläutert Schuller. Irland wiederum sei unter dem Rettungsschirm und somit vom guten Willen der EU abhängig. Als aktuelles EU-Ratsvorsitzland müsse es doppelt vorsichtig und auf eine moderierende Rolle bedacht sein. Auch im Norden finde London wenig Rückhalt, betont Schuller: "Schweden und Holland sind in Marktfragen zwar einer Meinung mit den Briten, aber stark pro-europäisch orientiert. Und Tschechien ist als Partner unberechenbar."

Volk will EU-Kooperation

Womöglich überschätzt Cameron obendrein die EU-Skepsis seiner Landsleute: Laut der jüngsten Eurobarometer-Umfrage vom Herbst 2012 hält sich die Meinung, ob die EU in die richtige oder falsche Richtung steuert, mit je 41 Prozent die Waage. Ganze 85 Prozent der Briten stimmen sogar der Aussage zu, dass die EU-Mitglieder bei der Bewältigung der Finanz- und Wirtschaftskrise stärker zusammenarbeiten sollten.