Langzeitfolgen sind auch ein gesellschaftliches Risiko. Wie groß ist es? Eine Annäherung.
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Die Vorboten des Herbstes sind nicht nur fallende Temperaturen, sondern auch steigende Corona-Zahlen. Viel deutet darauf hin, dass sich gerade eine erneute Welle aufbaut, ähnlich wie in den vergangenen Jahren. Dennoch ist die Situation eine andere. Impfungen und antivirale Medikamente haben der akuten Covid-19-Erkrankung einen Gutteil ihres Schreckens genommen. Doch was ist mit Long-Covid?
Die Bandbreite dieses neuen Gesundheitsrisikos ist groß. Das betrifft die Dauer, die Häufigkeit, die Symptome sowie die zugrunde liegenden Ursachen. Das macht es auch schwer, das Risiko seriös zu quantifizieren, und zwar sowohl das individuelle Risiko als auch das volkswirtschaftliche. "Es sind verschiedene Phänomene, die als Long-Covid bezeichnet werden", sagt der Mediziner und Gesundheitsökonom Thomas Czypionka vom Institut für Höhere Studien.
Immerhin setzt sich nun eine einheitliche Definition durch, nämlich alle Symptome in Verbindung mit dem Infekt, die mehr als vier Wochen nach Beginn von Covid-19 fortbestehen oder neu auftreten. Bis zu einer Dauer von drei Monaten wird von "fortwährend symptomatischem Covid-19" gesprochen, ab der zwölften Woche ist dann von "Post-Covid" die Rede. Long-Covid ist also der Überbegriff.
Die Liste möglicher Symptome ist mittlerweile lang. Häufig werden Husten, Herzflattern, Kopfweh und Fatigue genannt, also eine manifeste Müdigkeit. Aber auch Depression, Durchfall, Schwindel und Hautausschläge stehen auf dieser Liste, sie ist auf dem Gesundheitsportal des Ministeriums zu finden.
Drei Ursachen für viele Symptome
Es ist wahrscheinlich, dass die Symptome mit den dahinter liegenden Ursachen zusammenhängen. Czypionka ordnet sie in drei Kategorien: Manchmal ist das Immunsystem nicht in der Lage, das Virus effektiv zu bekämpfen, es bleibt lange im Körper und die Krankheit zieht sich über Wochen. Das betrifft vor allem Personen mit geschwächtem Immunsystem. Zweitens können Organschäden eine Ursache sein. Wer eine Lungenentzündung hatte, kämpft oft über Monate mit Kurzatmigkeit. Und das Coronavirus kann zahlreiche Organe befallen, mehr als Influenza, und leider auch das Nervensystem, weshalb es auch zu neurologischen Symptomen kommen kann.
Eine dritte Ursache sind immunologische Phänomene, wie kürzlich auch ein kanadisches Forschungsteam gezeigt hat, das im Blut von Long-Covid-Patienten Anzeichen für Autoimmunerkrankungen fand. Spezifische Antikörper richten sich gegen das eigene Gewebe und lösen Entzündungen aus. Alle drei Ursachen sind in ihrem Prinzip auch von anderen Viren bekannt, bei Sars-Cov-2 könnte es aber häufiger der Fall sein.
Nicht zuletzt, weil die Symptomatik gar so breit ist, gehen auch die Angaben zur Häufigkeit weit auseinander. Es ist auch nicht alles gleich schlimm. Wer einige Wochen nach Genesung noch etwas Müdigkeit verspürt, ist zweifellos besser dran als Personen, die dauerhaft arbeitsunfähig oder gar pflegebedürftig sind. Auch das gibt es.
Dass die Häufigkeit bisweilen mit 40 Prozent oder gar darüber angegeben wird, resultiert laut Czypionka daraus, dass es bei diesen Studien oft keine Kontrollgruppe gab. "Die Hintergrundinzidenz wurde nicht korrigiert", sagt er. Wer noch vier Monate nach einer Covid-Erkrankung Kopfschmerzen hat, kann diese auch aus anderen Gründen haben. Long-Covid ist meist die Ausschlussdiagnose, wenn keine anderen Ursachen gefunden werden. Die Abklärung ist auch wichtig, um andere mögliche Gründe nicht zu übersehen.
83.700 Krankenstände, die meisten aber kurz
Der "Wiener Zeitung" liegen nun Daten der Gesundheitskasse (ÖGK) zu Krankenständen wegen Long-Covid vor. Zusammengefasst sind darin die Diagnosecodes für "Post-Covid-19" und "Multisystemisches Entzündungssyndrom in Verbindung mit Covid". Insgesamt gab es bis 1. September rund 83.700 solcher Arbeitsunfähigkeitsmeldungen - bei mehr als fünf Millionen Infektionen. Anfang September waren noch 1.290 Versicherte krankgeschrieben.
Sehr lange Arbeitsunfähigkeiten sind laut diesen Daten selten. In 548 Fällen lag die Dauer über einem halben Jahr, die Hälfte davon war im September wieder arbeitsfähig. 57 Krankenstände dauerten sogar länger als ein Jahr, wobei zuletzt noch 16 aktiv waren.
Es gibt aber wichtige Einschränkungen dieser Daten. Es handelt sich nur um unselbständig Beschäftigte. Kinder, Selbständige und Pensionisten sind nicht umfasst. Plausibel ist zudem, dass es zu Unter- wie auch zu Übererfassungen bei der Codifizierung kommt. Es kann aber nur darüber spekuliert werden, was quantitativ mehr wiegt. Außerdem: Wer sich nach 1. März infizierte, kann noch nicht länger als sechs Monate arbeitsunfähig gewesen sein. Fast die Hälfte aller bisherigen Infektionen fällt aber in diesen Zeitraum.
Rund 60 Prozent aller Krankenstände dauerten maximal fünf Tage, wobei auch Mehrfach-Krankenstände einer Person darunterfallen. Auch aufgrund dieser Einschränkungen können die Daten das volkswirtschaftliche Problem von Long-Covid nur grob umreißen, aber nicht präzise abstecken. Sie sagen zudem nichts darüber aus, ob die Arbeit wieder in vollem Umfang aufgenommen wurde. Auch Gesundheitsökonom Czypionka betont, wie schwierig aktuell Modellierungen über die ökonomischen Effekte sind.
Long-Covid dürfte seltener werden
Aus einer dänischen Studie vom Februar, basierend auf Registerdaten, geht hervor, dass 1,6 Prozent nach einem halben Jahr noch im Krankenstand waren. Das wären bei 4,1 Millionen unselbständig Beschäftigten in Österreich, wenn alle irgendwann infiziert wären, rund 65.000 Personen, die sehr lange ausfallen. Zumindest vorerst deuten die Daten der ÖGK nicht auf derart hohe Zahlen.
Es ist aber plausibel, dass der Anteil der Long-Covid-Betroffenen über die Zeit geringer wird. Eine bestehende Immunität, auch nach einer Impfung, reduziert die Wahrscheinlichkeit, Long-Covid zu entwickeln, bestätigt Czypionka. Auch hier ist die Bandbreite aber groß, beschrieben wird ein vermindertes Risiko zwischen 15 und 75 Prozent. Denkbar ist, dass vor allem die beiden erstgenannten Ursachen, also sehr lange Verläufe sowie Organschädigungen, durch die Impfung reduziert werden können. Lungenentzündungen sind dank verbreiteter Immunität tatsächlich viel selten geworden.
Zuletzt mehrten sich auch die Hinweise, dass die Prognose bei Long-Covid meist gut ist, also eine Besserung eintritt, auch wenn dieser Prozess manchmal Monate dauern kann. Rehabilitation kann bei diesem Weg zurück notwendig und ein wichtiger Beitrag sein, um zu verhindern, dass Beschwerden chronisch werden. Die Angebote dazu sind aber erst im Aufbau. Und auch bei der Diagnostik gilt es noch viel zu lernen. Für niedergelassene Ärzte, die meist die ersten Anlaufstellen für Betroffene sind, wurde ein Leitfaden entwickelt, neue Erkenntnisse werden darin laufend eingearbeitet. Das Sozialministerium veranstaltete zum Thema Long-Covid in der Vorwoche ein erstes Symposium dazu. Es wird nicht das letzte gewesen sein.