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Lösung für eine EU-Reform ist zum Greifen nahe

Von WZ-Korrespondent Wolfgang Tucek

Europaarchiv

Kein Vetorecht mehr in vielen Bereichen. | Verbriefte Grundrechte für Unionsbürger. | Brüssel. Die EU-Staats- und Regierungschefs werden sich aller Voraussicht nach spätestens am Freitag auf einen neuen Reformvertrag für die Europäische Union einigen. Damit sollen die Entscheidungs- und Organisationsstrukturen an die erweiterte EU mit 27 Mitgliedsstaaten und ihren rund 500 Millionen Einwohnern angepasst werden. Derzeit gelten noch die Regeln des Nizza-Vertrags, den 15 Länder abgeschlossen hatten. Der Verfassungsvertrag, der letzte Reformanlauf, war an negativen Referenden 2005 in Frankreich und den Niederlanden gescheitert.


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Ganz ähnlich dem damaligen Vertragswerk sollen jetzt Entscheidungen effizienter, rascher und demokratischer getroffen; soll die Union nach außen einheitlicher und besser vertreten werden können. Die EU-Kommission soll ebenso wie das EU-Parlament verkleinert werden. Die Ratifizierung des neuen Vertrags in allen Mitgliedsstaaten wird nicht vor Ende 2008 erwartet.

Mehrheit entscheidet

Ein Kernpunkt der Reform ist die Ausdehnung der Mehrheitsentscheidungen auf 40 Politikbereiche, wobei auch die Stimmgewichtung neu geordnet wird. Keine Vetomöglichkeit soll es vor allem für EU-Entscheidungen bei Teilen der gemeinsamen Landwirtschaftspolitik, im Asyl- und Einwanderungsbereich sowie für Polizei- und Justizkooperation mehr geben. Dafür muss das Europäische Parlament künftig zustimmen.

Das soll Entscheidungen im gemeinsamen europäischen Interesse fördern und mehr demokratische Mitbestimmung gewährleisten. Schließlich sind die EU-Abgeordneten durch ihre Wahl ins Brüsseler Parlament demokratisch legitimiert und keiner nationalstaatlichen Regierung Rechenschaft schuldig. Darüber hinaus erhalten auch die nationalen Parlamente in ihrer Mitsprache bei der EU-Gesetzgebung Aufwertung.

Gericht hat letztes Wort

In allen neuen Bereichen, in denen es künftig kein Vetorecht gibt, wird der Europäische Gerichtshof (EuGH) das letzte Wort bei der Rechtsauslegung haben. Auf Bestreben Großbritanniens gilt das für bereits bestehende EU-Richtlinien im Polizei- und Justizbereich - wie etwa beim Europäischen Haftbefehl - erst fünf Jahre nach Inkrafttreten des Reformvertrags. London kann sich dann aussuchen, ob es das akzeptiert oder automatisch aus sämtlichen einstimmig beschlossenen - und bis dahin nicht per qualifizierter Mehrheit veränderten - Kooperationsvereinbarungen ausgeschlossen wird. Für alle neuen EU-Beschlüsse im Polizei- und Justizbereich kann Großbritannien wählen, ob es mitmachen will oder nicht, riskiert aber den Ausschluss aus damit zusammenhängenden Kooperationsbereichen.

Um die EU nach außen besser vertreten zu können, wird ein "Hoher Vertreter" für Außenpolitik und ein ständiger Ratspräsident eingeführt, deren Wirkungsfelder im besten Fall unklar sind (siehe Artikel unten). Einen Vorteil birgt dagegen, dass die EU mit dem Reformvertrag auch endgültig eine eigene Rechtspersönlichkeit im Sinne des Völkerrechts erhält. Denn etwa für die UNO gibt es die EU bisher schlicht nicht als solche - schon absurde Streitigkeiten um die Beschriftung von Sitzkärtchen ("Europäische Union", "Europäische Gemeinschaft" oder "Europäische Kommission") gaben die EU nicht selten der Peinlichkeit preis.

Rechtlich verbindlich wird - außer für Großbritannien und Polen - künftig auch die EU-Grundrechtecharta. Sie gilt für die EU-Institutionen und derzeit 25 Mitgliedsstaaten bei der Umsetzung von EU-Recht. Sie verbrieft neben den klassischen Grund- und Freiheitsrechten aus der Menschenrechtskonvention etwa auch soziale Grundrechte, die Verpflichtung der EU zum Umweltschutz oder das Recht der Bürger auf "gute Verwaltung".

Szenario für EU-Austritt

Das wird dann auch vor dem Europäischen Gerichtshof einklagbar, der sich bei seiner Rechtssprechung allerdings schon bisher an der Charta orientiert. Die recht allgemein gehaltenen Formulierungen werden auf der Basis von EuGH-Urteilen konkretisiert. Im Reformvertrag selbst wird es allerdings nur einen Verweis auf das Dokument geben. Es soll zwischen dem Gipfel in Lissabon und der formellen Unterzeichnung des Vertrags im Dezember feierlich verkündet und dann im Amtsblatt der EU veröffentlicht werden - das ziehe die selbe Rechtswirkung wie die EU-Verträge nach sich, hieß es.

Neu ist neben der grundsätzlichen Verankerung von gemeinsamer EU-Energie- und Klimaschutzpolitik auch ein von den EU-Verträgen selbst geregeltes Ausstiegsszenario für Mitgliedsstaaten. Ein EU-Austritt musste bisher nach den Regeln des Völkerrechts durchexerziert werden. Lediglich Grönland machte davon bisher Gebrauch. Auch künftig erwarten Experten nicht, dass die Ausstiegsklausel eine tatsächliche Rolle in der Geschichte der Union spielen wird.