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Merkel weiß, dass die EU Lösungen braucht. Das geht nur mit Kompromissen, nicht Parolen.
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Es ist verlockend, den mit 1. Juli startenden sechsmonatigen EU-Ratsvorsitz Deutschlands als Schlüssel für die Lösung der zahlreichen europäischen Baustellen - vom heftig umstrittenen Wiederaufbaufonds über das EU-Budget bis hin zum Brexit - zu betrachten. Immerhin übernimmt nun das mit Abstand größte und mächtigste Land der Union das Steuerrad und mit Angela Merkel versucht sich die einzige europäische Politikerin jetzt als ehrliche Maklerin, die über eine solide innenpolitische Machtbasis verfügt. Alle anderen Spitzen der großen EU-Staaten - Spanien, Italien, Polen und auch Frankreich - stehen zuhause schwer unter Druck, was dazu führt, dass sie Europapolitik als Fortsetzung der Innenpolitik mit anderen Mitteln betreiben.
Interessen verfolgt natürlich auch die deutsche Kanzlerin, durchaus auch solche, die in einem engeren Sinne als national zu verstehen sind. Unter dem massiven Eindruck von drei existenziellen europäischen Krisenerfahrungen in kaum zwölf Jahren - Schulden, Migration, Corona - hat sich in Deutschlands politischer Klasse jedoch die Überzeugung als Konsens herausgestellt, dass das größte und mächtigste Land der Union auch am meisten zu verlieren hat, sollte dieser Staatenverbund scheitern.
Oder anders ausgedrückt: Im Berliner Regierungsviertel wird mehr als in jeder anderen EU-Hauptstadt, Brüssel einmal ausgenommen, das Schicksal der EU und Deutschlands als kongruent empfunden. (In kleineren EU-Staaten ist das womöglich deshalb anders, weil hier das Gefühl stärker ausgeprägt ist, die europäischen Spielregeln würden ohnehin von den Großen gemacht.)
Alle Augen - und etliche Hoffnungen - sind auch deshalb auf die dienstälteste Regierungschefin der EU gerichtet, weil, wie schon in den Krisen zuvor, die europäischen Institutionen weitgehend abgetaucht sind. Zu mehr als Appellen fehlt sowohl der Kommission wie dem Parlament in Brüssel die politische Kraft in einer eminenten Krise - und ehrlicherweise auch die demokratische Legitimation, und zwar auch in den Augen der EU-Bürger.
Dass sich Merkel ihrer besonderen Rolle bewusst ist, zeigt der simple Umstand, dass sie darauf verzichtet, die Kritik am derzeit diskutierten 750 Milliarden Wiederaufbaufonds aus Zuschüssen und Krediten, die auch Österreich formuliert, als Europäer minderer moralischer Qualität zu brandmarken. Sie weiß aus vergangenen Krisen am besten, dass mit solchen Zuschreibungen keine konstruktive europäische Politik zu machen ist. Und schon gar kein dringend notwendiger Kompromiss. Merkel weiß also, dass Europa keine Parolen, sondern Lösungen braucht.