)
Der amerikanische Schriftsteller Louis Begley über seine harten Jugend- und Lehrjahre, seinen Alltag als Anwalt, den neuen Roman "Ehrensachen" - und was er an Wien besonders mag.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 18 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Wiener Zeitung: Sie sind gerade mit Ihrem neuen Roman "Ehrensachen" auf Lesereise durch Deutschland. Schade, dass Sie nicht auch nach Wien kommen konnten.Louis Begley: Wien war eigentlich eingeplant. Aber es hätte, auch wegen meiner Termine in New York, ein riesiges logistisches Problem aufgeworfen, nach Wien zu fliegen. Deshalb konnte ich zu meiner großen Enttäuschung dieses Mal nicht kommen. Ich war schon oft in Wien, es ist eine meiner Lieblingsstädte.
Was mögen Sie an Wien?
Das Kunsthistorische Museum. Das ist mir einer der liebsten Orte auf der ganzen Welt. Und ich liebe die Oper. Ich bummele auch gerne durch die Stadt - und ich mag die Sacher-Bar.
Verstehen und sprechen Sie Deutsch?
Ich habe es gelernt, als ich ein Kind war, und es aufgefrischt, als ich während meines Militärdienstes achtzehn Monate lang in der Nähe von Stuttgart stationiert war. In den USA habe ich allerdings nie Gelegenheit, meine Deutschkenntnisse zu verwenden, aber ich kann deutsche Texte lesen - und ich verstehe fast alles, was auf Deutsch gesprochen wird.
Haben Sie Deutsch in der Schule gelernt?
Nein, ich ging in Polen nur ein Jahr in die Schule.
Gibt es deutsche und österreichische Speisen, die Sie mögen?
Oh ja, ich mag Wiener Schnitzel, Tafelspitz und Gänsebraten.
Sind Sie jemand, der gerne isst?
Oh ja, ich esse sehr gern, und ich trinke auch sehr gern.
Whiskey angeblich!
Ja, aber auch Gin und Wodka und andere Drinks.
Trinken Sie Whiskey immer noch regelmäßig oder haben Sie Ihr Quantum etwas reduziert?
Ich war doch nie ein Trinker! Und ich habe auch nicht die Absicht, es zu reduzieren. Im Gegenteil: Ich habe das Gefühl, ich trinke viel zu wenig. Aber ich will mich ja nicht an allzu viel Alkohol gewöhnen . . .
Kochen Sie auch selbst?
Ja, ich koche gerne. Aber meine Frau kocht so unübertrefflich gut, dass ich selten eine Möglichkeit dazu bekomme.
Wenn doch, haben Sie dann ein Lieblingsgericht?
Ich mache viele Dinge gut. Ein Gericht kennen Sie wahrscheinlich gar nicht: Es heißt "Bigos" und ist ein polnisches Nationalgericht; es besteht hauptsächlich aus Sauerkraut. Es schmeckt fantastisch! Aber ich bin auch sehr gut bei allen gebratenen Speisen: Steaks, Hamburger, Lammkoteletts. Mein Boeuf Bourguignon ist auch sehr gut. Ich kann fast alles kochen, nur backen kann ich nicht. Übrigens kann ich auch Hummer zubereiten. Da Hummer kein Herz haben, macht es mir nichts aus, sie lebendig ins kochende Wasser zu werfen.
Apropos Herz: Liegt Ihnen eine Figur in Ihrem neuen Roman, "Ehrensachen", besonders am Herzen?
Ja, Sam mag ich sehr.
Warum?
Weil ich ihn entdeckt habe. Ich brauchte einen Erzähler - und Henry konnte es nicht sein, obwohl ein großer Teil des Buchs von ihm handelt, mehr als von seinen Freunden Sam, George oder Margot. Eine Zeitlang wusste ich nicht weiter - und dann fand ich Sam. Er erwies sich als ein guter Erzähler, als ein nützlicher und interessanter Typ.
Warum konnte nicht Henry der Erzähler sein?
Es klang für mich einfach nicht richtig. Ich versuchte es auch mit der auktorialen Erzählperspektive. Das gefiel mir aber auch nicht. Sam kam daher wie gerufen. Ich bin ihm sehr dankbar.
Sie haben einmal gesagt, Sie mögen Menschen, die andere nicht mögen. Und Sie fänden es sympathisch, wenn jemand viel über sich nachdenkt. Henry tut das. Mögen Sie ihn deswegen?
Sicher. Es ist schwer, sich intensiv mit einer Figur zu beschäftigen, die man nicht mag. Was ich an Sam so liebe, ist, dass er komplett erfunden ist. Henry ist auch eine Erfindung - er ist also nicht ich -, aber ich kenne ihn zu gut. Die Entdeckung von Sam ist frischer.
Henry ist auch der Emotionalste unter den Freunden. Er ist der Einzige, der weiß, was tief empfundenes Leid ist, und der Einzige, der wenigstens ab und zu wirkliches Glück empfindet.
Und der Einzige, der es ausdrückt. Ich stimme Ihnen zu.
Warum erscheinen Ihre Figuren emotional oft wie tief gefroren?
Das eine sehr gute Frage! Ich nehme an, ich bin selbst irgendwie so. Und wenn diese Gefühle aus mir herauskommen, ist es unvermeidbar, dass meine Figuren darunter leiden.
Fühlen Sie sich denn, je älter Sie werden, zunehmend in Frieden mit sich selbst?
Ich denke, je älter ich werde, desto besser kenne ich mich und desto sensibler werde ich dafür, was ich tue und wie ich es tue. Damit einher geht ein größerer Grad der Selbstakzeptanz. In dieser Hinsicht lebe ich etwas mehr im Frieden mit mir als früher. Aber wenn man ein Buch, speziell eines wie "Ehrensachen", schreibt, löst man einen Sturm von Erinnerungen und Gefühlen aus. Menschen und Dinge tauchen auf, die man halb oder vielleicht zu zwei Dritteln vergessen hatte. Das ist kein friedvoller Prozess, und er führt nicht zum inneren Frieden. Aber ich denke, Sie wollen wissen, ob ich damit ausgesöhnt bin, was ich im Zweiten Weltkrieg erlebte. Damit werde ich mich nie aussöhnen, es ist unmöglich! Erstens ist es unverständlich; zweitens kann man es nicht vergeben; und drittens ist es unvergesslich.
Ich meinte, ob Sie sich zunehmend mit ihrer jüdischen Herkunft im Reinen fühlen.
Mit meiner jüdischen Identität habe ich keine Probleme. Ich bin zu einhundert Prozent Jude, ich kenne meine Identität. Alle diesbezüglichen Zweifel Henrys sind seine Probleme, nicht die meinen. Ich bin kein religiöser Jude, ich bin kein beobachtender Jude, ich bin kein Zionist.
Sie kamen als Dreizehnjähriger nach New York und sprachen kaum Englisch. Anfangs muss es in den USA doch sehr schwer für Sie gewesen sein.
In diesem Fall erging es mir wie Henry, der sagt: "Wir haben im Krieg alles verloren." Ich hatte das Gefühl, dass mir eine sehr viel bessere Position im Leben zustünde als die, in der ich gelandet war. Also arbeitete ich daran, eine bessere Position zu erringen.
Sie haben einmal behauptet, Sie seien amerikanischer Nationalist und Patriot, weil die USA Einwanderern, egal welcher Herkunft, das Gefühl vermitteln würden, willkommen zu sein.
Ja, ich liebe mein Land. Die Vereinigten Staaten umarmten mich, was nicht ohne Bedeutung für meine heutigen Gefühle ist. In den ersten Jahren war ich allerdings schrecklich verwirrt. Ich dachte, ich könnte nie den Abstand zwischen mir und den brillanten Menschen um mich herum verringern. Etwas später merkte ich, dass ich es doch konnte. Es ist nicht einfach für einen Jugendlichen, der gerade schreckliche Erlebnisse hinter sich hat, in eine Umgebung zu kommen, die sprachlich, sozial, kulturell, in jeder Hinsicht völlig anders ist. Ich fühlte, ich müsste schnell eine riesige Menge von Informationen in mich aufsaugen und viele neue Fähigkeiten erwerben.
Eine harte Aufgabe...
..., die mir keine Zeit zum Durchatmen ließ. Zum Glück war ich ein sehr kluges Kind. Als ich älter wurde, war ich dann nicht mehr so clever...
Klug müssen Sie schon allein deswegen gewesen sein, um dieses Pensum zu bewältigen.
Es war hart. Es war auch hart, nicht zuzulassen, dass man in eine Ecke gestellt wird. Ich wollte kein polnischer Flüchtling sein, ich wollte kein jüdischer Flüchtling sein, ich wollte überhaupt kein Flüchtling sein. Ich wollte jemand sein, der in den USA lebt und genau die gleichen Möglichkeiten und Rechte hat, wie jeder andere auch. Ich wollte einen offenen Weg vor mir haben - und das habe ich schließlich erreicht.
s muss ein gutes Gefühl gewesen sein, so viel durch eigene Anstrengung erreicht zu haben.
Das war es. Aber natürlich ist das nur ein Teil der Story. Das Leben enthält viele andere Aspekte.
Sind Sie jemals nach Polen zurückgekehrt?
Ich war mehrere Male in den neunziger Jahren dort. Einmal in Verbindung mit meinen Büchern - fast alle meine Bücher sind auf Polnisch erschienen -, und die anderen Male als Anwalt.
Sam und Henry reisen schon während des Studiums sehr viel und pendeln später zwischen New York und Paris. Waren Sie als junger Mann auch so viel unterwegs?
Als Anwalt für internationales Vertragsrecht war ich fast so viel unterwegs wie ein Handelsreisender. Viele Aspekte davon mochte ich sehr. Ich muss sagen, bis zum einundzwanzigsten Jahrhundert machte das Reisen sehr viel mehr Spaß. Jetzt ist das Fliegen wirklich lästig. Die ganzen Sicherheitsvorkehrungen und Verspätungen. Alles dauert ewig.
Sind Sie auch privat viel gereist?
Lange nicht so viel wie als Anwalt. Mein Leben verlief so: Ich ging fast lückenlos nacheinander aufs College, zur Armee, auf die "Law School" und zur Arbeit. Es gab keine Wanderjahre.
Auf dem College war Ihr Schwerpunkt Englische Literatur. Warum haben Sie sich dann für ein Jura-Studium entschieden?
Ich hätte Literatur studieren und den Doktor machen können, um eventuell Universitätsprofessor zu werden. Das hatte ich lange im Sinn. Aber je länger ich darüber nachdachte, desto weniger konnte ich mir vorstellen, jeden Tag in die Bibliothek zu gehen und all das zu tun, was zu einer wissenschaftlichen Karriere gehört. Eine Zeitlang wusste ich gar nicht, was ich tun sollte. Dann beschloss ich, Anwalt zu werden, weil ich nichts über diesen Beruf wusste. Ich wollte kein Arzt werden, kein Banker, kein Versicherungskaufmann, kein Tierarzt - das war ein großer Fehler, glaube ich heute; Tierarzt wäre wundervoll gewesen. So wurde ich Anwalt.
Und wie hat Ihnen die Arbeit als Anwalt gefallen?
Ich liebte sie. Aber ich vermisse die Arbeit jetzt nicht. Höchstens die jungen Kollegen - und den Kontakt mit ihnen.
Ein Thema in "Ehrensachen" ist der Spagat junger Menschen zwischen ihren eigenen Vorstellungen von ihrem Leben und den Erwartungen ihrer Eltern. Was wünschten sich Ihre Eltern für Sie?
Sie wollten, dass ich erfolgreich, glücklich und gesund sein würde, und eine nette Frau und mehrere hübsche, intelligente und pflichtbewusste Kinder haben möge.
Ihr Vater starb bereits 1964, aber Ihre Mutter lebte bis vor zwei Jahren. Was hielt sie davon, dass Sie Romane schreiben?
Nun, meine Mutter mochte meine Bücher nicht, insbesondere die Passagen, in denen es um Sex geht. Sie dachte, es sei ziemlich unnötig, dass ich Bücher schreibe. Ich hätte doch einen sehr guten Beruf, ein sehr schönes Leben; ich hätte es nicht nötig, zu publizieren und Ärger zu suchen. Aber sie mochte es, dass meine Bücher erfolgreich waren.
Erfolg versöhnt Eltern ja meistens. Reizt es Sie nicht, literarisch einmal in eine ganz andere Welt einzutauchen, anstatt immer über das Milieu zu schreiben, in dem Sie leben?
Ich weiß nicht, ob ich über eine Welt schreiben könnte, die ich nicht kenne.
Sie könnten recherchieren.
Nein, nein, nein. Warum sollte ich die Lebenswelt von - welches Beispiel sollen wir nehmen? - Radrennfahrern recherchieren? Warum sollte ich über Radrennen schreiben?
Möglicherweise würden Sie ungeahnte Verbindungen zu Ihrem eigenen Leben entdecken.
Wenn ich einen Radrennfahrer treffen sollte, der mich fasziniert, dann könnte es sein, dass ich über ihn schreibe. Allerdings verpacke ich nie reale Personen in ihrer Gesamtheit in ein Buch. Nein, ich kann es mir nicht vorstellen. In meiner eigenen Welt gibt es genügend Dinge, die mich interessieren. Es gibt großartige Romane von Autoren, die andere Lebenswelten recherchieren, ich weiß. Der irische Schriftsteller Colum McCann ist ein gutes Beispiel dafür. Die Passagen seines Buchs über Rudolf Nurejew, die in Russland spielen, sind erstklassig. Seinen neuen Roman über Roma in der Slowakei ( "Zoli", Anm. ) habe ich allerdings noch nicht gelesen.
Er ist mindestens genauso beeindruckend.
Ich bin sicher, dass er das ist. Ich kann es allerdings nur schwer verstehen, dass man über Roma schreiben will, wenn man selbst kein Roma ist. Man fängt praktisch bei Null an. Es ist bewundernswert, aber es ist nicht meine Herangehensweise.
Im August letzten Jahres empörten Sie sich in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" über Günther Grass spätes SS-Geständnis. Ihr Essay war einer der wenigen großen Meinungsartikel in deutschsprachigen Medien, in denen Grass offen angeklagt wurde, zweiundsechzig Jahre lang gelogen zu haben.
Ich sage Ihnen: Ich bin immer sehr gut darin gewesen, den Menschen unangenehme Wahrheiten zu sagen. Mehr Worte möchte ich über den Fall Grass nicht mehr verlieren.
Louis Begley: Ehrensachen (Buchbesprechung)
Zur Person:
Louis Begley wurde 1933 als Ludwik Begleiter und als einziges Kind jüdischer Eltern im polnischen Stryi geboren. 1939 wurde die Stadt von den Russen, im Sommer 1941 von den Deutschen besetzt; heute gehört sie zur Ukraine. Sein Vater wurde von der russischen Armee zwangsrekrutiert. Für den siebenjährigen Ludwik und seine Mutter begann, als polnische Katholiken getarnt, eine Odyssee durch Lemberg, Warschau und Krakau, wo sie nach Kriegsende den Vater wieder trafen. Im Schuljahr 1945/46 besuchte Ludwik zum ersten Mal eine Schule. 1947 wanderte die Familie über Paris in die Vereinigten Staaten aus und änderte ihren Namen in Begley. Nach zwei Schuljahren in New York erhielt Louis Begley ein Stipendium fürs Harvard College, verbrachte eineinhalb Jahre seines Militärdienstes in Baden-Württemberg und studierte Jura in Harvard. 1956 heiratete er seine erste Frau, mit der er drei Kinder hat. 1959 trat Begley als Wirtschaftsanwalt in die renommierte Kanzlei Debevoise & Plimpton ein. Er arbeitete ein paar Jahre in deren Pariser Niederlassung, wurde 1968 Sozius und leitete später die internationale Rechtsabteilung in New York. 2004 beendete er seine Arbeit als Anwalt. Er lebt mit seiner zweiten Frau Anka Muhlstein in Manhattan.
1991 erschien Louis Begleys erster Roman, "Lügen in Zeiten des Krieges" (deutsch 1994), der von seinen Kriegserlebnissen erzählt. Das Buch wurde ein Weltbestseller und Begley vielfach ausgezeichnet. Es folgten die Gesellschaftsromane "Der Mann, der zu spät kam" (dt. 1996), "Wie Max es sah" (1995), "Schmidt" (1997), "Mistlers Abschied" (1998), "Schmidts Bewährung" (2001), "Schiffbruch" (2003) und "Ehrensachen" (2007). Fast alle seine Bücher sind stark autobiografisch und handeln von Ehrgeiz, Geld und Macht in New Yorker Bildungseliten, von Liebesverrat, den Nachwirkungen der Judenverfolgung, den Fesseln der Herkunft und der Suche nach einer neuen Identität, und sind auf Deutsch im Suhrkamp Verlag erschienen.