Manipuliert, gefälscht, konstruiert: Im digitalen Zeitalter ist der Glaube an die Wahrheit der Fotografie ins Wanken geraten.
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Geplant war eine Auszeit am Ende eines anstrengenden Studienjahrs. Die Reise der 25-jährigen niederländischen Studentin Zilla van den Born sollte nach Südostasien, Thailand, Kambodscha und Laos führen. Im Sommer 2014 verabschiedete sie sich am Amsterdamer Flughafen von ihrer Familie, bald danach trudelten die ersten Bilder auf ihrer Facebook-Seite ein. Die junge Frau war auf herrlichen Stränden zu sehen, in einer Autorikscha im städtischen Gewühl einer asiatischen Metropole, bei der Besichtigung von Tempeln, im Restaurant vor einer exotischen Speise. Nichts Ungewöhnliches, ein Social-Media-Reisebericht, wie er millionenfach publiziert wird.
Einfache Manipulation
Nur: Zilla van den Born war nie in Asien. 42 Tage verbrachte sie inkognito in Amsterdam, alle Berichte und Bilder waren gefakt. Die erfahrene Grafikerin kopierte sich selbst in vorgefertigte Bilder aus dem Internet, kombinierte Ansichten, ließ da etwas weg, fügte dort etwas hinzu. Sogar Skype-Anrufe für ihre Familie inszenierte sie. Und auch die Ansichtskarten, die Wochen später eintrafen, waren mit Hilfe von Photoshop entstanden - Stempel und Briefmarken inklusive. Die erfundene Reise und ihre Dokumentation waren Teil eines universitären Ausbildungsprojekts. Zilla van den Born wollte zeigen, wie einfach die Manipulation von Bildern in den sozialen Medien ist und wie "lügenanfällig" diese sind. Ihre Geschichte sorgte weltweit für großes mediales Aufsehen. Denn just zu dieser Zeit begann das Thema fake news und fake images medial hochzukochen.
Debattiert wurde über erfundene Lebensläufe, über manipulierte Videos, die Millionen teilen, über gefälschte Gräuelbilder aus Kriegs- und Krisengebieten, über systematisch in Umlauf gebrachte Falschmeldungen in Wahlkämpfen und vieles mehr. Kann man, so lautete die zentrale Frage, Bildern und Texten im Netz eigentlich trauen? Oder grundsätzlicher: Wie kann man in Zeiten ausufernder globaler Falschnachrichten das Echte vom Unechten unterscheiden?
Die Fotografie, so heißt es gemeinhin, ist doch eigentlich ein Medium, das wahrhaftig und authentisch ist und das zeigt, was sich tatsächlich vor der Kamera abgespielt hat. Ist dieser Glaube an die Zuverlässigkeit der fotografischen Bilder am Beginn des 21. Jahrhunderts an sein Ende gekommen? Es scheint so. Denn die Meinung, dass Bilder lügen, ist heute weit verbreitet.
Bilderflut
Aber ganz neu ist diese Einschätzung nicht. Denn die Kritik an der Wahrhaftigkeit fotografischer Bilder reicht zeitlich weit zurück. Als vor der Mitte des 19. Jahrhunderts die allerersten Fotos gemacht wurden, sah man auf den Fotoplatten oft verwischte Streifen anstelle der Menschen oder Pferdefuhrwerke, die sich fortbewegten. Schnappschüsse im modernen Sinne waren noch unbekannt, ebenso farbige Bilder.
Um die Defizite der frühen Fotografie zu beheben, wurde im 19. Jahrhundert massiv in den fotografischen Produktionsprozess eingegriffen: Bilder wurden händisch eingefärbt, Wolken wurden eingefügt, mehrere Negative wurden zu idealen Szenen kombiniert, Formate wurden beschnitten, Körper und Gesichter retuschiert oder ganz entfernt, um nur einige der weitverbreiteten Eingriffe zu nennen. "Postproduktion" würden wir diese technischen Nachbearbeitungen heute nennen. Mitte des 19. Jahrhunderts wäre freilich noch niemand auf die Idee gekommen, diese gängigen handwerklichen Eingriffe als unzulässige Manipulationen zu brandmarken und den Fotos generell "Lügenhaftigkeit" zu unterstellen.
Nach 1900 freilich änderte sich die Situation grundlegend. Nun kamen massive Zweifel an der Wahrheit der Fotografie auf. In die Kritik geriet vor allem die massenhaft vervielfältigte Fotografie, die oft als "verlogen" hingestellt wurde, insbesondere Zeitungsbilder, Bildpostkarten und andere Aufnahmen, die in enormen Auflagen zirkulierten. In den 1920er Jahren und vor allem um 1930 steigerte sich dieser Vorwurf zu einem festen Topos im Feuilleton. Die Vorwürfe an die Illustrierten und ihren Bildgebrauch reichten von der unüberschaubaren "Bilderflut" über eine "Verflachung" des Massengeschmacks bis hin zur manipulierten Darstellung der Wirklichkeit.
In mancherlei Hinsicht erinnert die damalige Diskussion an gegenwärtige Debatten. In Zeiten massiver gesellschaftlicher Umbrüche und Verunsicherung ertönt der Ruf nach Wahrheit lauter als in Zeiten stabiler Verhältnisse. Als um das Jahr 2000 die digitale Revolution zu vollkommen neuen Formen der massenmedialen Verbreitung fotografischer Bilder im Netz führte, lebte die tiefsitzende kollektive Angst vor möglichen Bildmanipulationen und Fälschungen wieder auf. Was war geschehen? Die seit 2004 entstehenden sozialen Netzwerke (Facebook, Vimeo und Flickr wurden 2004 gegründet, YouTube 2005, Twitter 2006 und tumblr 2007) haben innerhalb weniger Jahre den Gebrauch und die Nutzung der Fotografie radikal und überaus folgenreich verändert.
Dokumentarische Kraft
Die Zahl der Bilder, die Geschwindigkeit ihrer Zirkulation und damit auch ihre neue gesellschaftliche Bedeutung stieg von Jahr zu Jahr dramatisch an. Parallel zur rasanten Ausweitung des digitalen Bildgebrauchs verbreiteten sich auch neue billigere und leichter zu bedienende Instrumente der Bildverarbeitung und -veränderung, die speziell für Social-Media-Kanäle entwickelt wurden.
Das Hilfsprogramm Photoshop, das ab 1987 entwickelt wurde und sich ab den 1990er Jahren flächendeckend durchzusetzen begann, bekam nun Konkurrenz von kostenlosen Bildoptimierungsprogrammen, die die sozialen Netzwerke ihren Usern zur Verfügung stellten. Mit ihrer Hilfe war fast alles möglich: Fotografische Bilder wurden zur Rohware, die beliebig manipulier- und veränderbar war.
Auch wenn die Strahlkraft des Authentischen in der Ära der digitalen und sozialen Medien schwächer geworden ist, hat die Fotografie immer noch eine enorme dokumentarische Kraft, insbesondere in Krisen- und Kriegszeiten, in denen Fotografien oft eine unheimliche Nähe und Unmittelbarkeit herstellen, wie sie Texte kaum erreichen können. Das beweisen auch die zahlreichen Fotografien und Videos, die lokale und internationale Kriegsfotografen an den Fronten und im Hinterland des gegenwärtigen Ukrainekriegs liefern. Ihre dokumentarische Kraft steht außer Zweifel, auch wenn manche dieser Foto- und Videodokumente, etwa jene zu den Kriegsverbrechen im ukrainischen Butscha, intensive Faktenchecks durchliefen, bevor sie veröffentlicht wurden, eben weil ihre Glaubwürdigkeit von russischer Seite angezweifelt wurde.
Kampf um die Wahrheit
Die heftig geführten Debatten um fake images verdecken die Tatsache, dass die Zahl der gefälschten Bilder im Vergleich zu den enormen Massen an Fotos, die im Netz zirkulieren, immer noch verschwindend gering ist. Es stimmt aber auch, dass die absolute Zahl manipulierter Bilder in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat, nicht nur im alltäglichen, politischen und gesellschaftlichen Bereich, sondern auch in der Wissenschaft. Fakes sind, wie der Kultur- und Medienwissenschafter Joseph Vogl betont, nicht nur das Ergebnis findiger Fälscher, sondern sie sind geradezu Kernelemente des modernen digitalen Mediensystems.
Der gegenwärtige Medienkapitalismus produziert, so Vogl, "ein nebulöses Gemisch aus Simulation und Dissimulation, in dessen Zentrum das Genre eines ebenso wirkungsvollen wie enthemmten Fabulierens" steht. Dieser Sprühregen im Graubereich von Fakten und Fakes ist zum Hintergrundrauschen der digitalen Nachrichtenzirkulation geworden. Er hat auf der einen Seite den Glauben an die Wahrheit der Fotografie massiv angekratzt. Zugleich aber haben die Wellen der Empörung über (angeblich) manipulierte und gefälschte Bilder neue Höchststände erreicht.
Diese kollektive Aufregung über fake news und fake images, die im zweiten und dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts zum beherrschenden Thema wurde, blieb in der Medienwelt nicht ohne Folgen. Seit Jahren reagieren analoge und digitale Medien, die in der kollektiven Verunsicherung ihr Geschäftsmodell bedroht sehen, auf ganz unterschiedliche Weise auf das Phänomen. Facebook etwa sieht im Anstieg vermeintlicher oder realer Fakes das Geschäftsmodell seines Medienkonzerns bedroht - mit der Folge, dass die Werbeschaltungen stocken. Der Konzern reagierte darauf, wie könnte es anders sein, indem er einen angeleiteten "Selbstreinigungsprozess" in Gang setzte.
Oder anders ausgedrückt: Facebook ließ die User an der Wahrheit arbeiten - honorarlos natürlich. "Falschmeldungen", so Facebook 2017 in einer ersten großen Anzeigenserie im deutschen Sprachraum, "können als solche erkannt werden. Wir bekämpfen deren Verbreitung und geben dir hier einige Tipps, wie du erkennen kannst, ob eine Nachrichtenmeldung wahr ist oder nicht." Diese Anzeigen wurden, das fällt auf, dort geschaltet, wo man seriöse Leser vermutete, die wahr und falsch auseinanderhalten können - in überregionalen Qualitätsblättern auf Papier.
Faktenchecks
Sind fake news und fake images überhaupt in den Griff zu bekommen? Sind angesichts der unkontrollierten und viralen Verbreitung von Nachrichten über die sozialen Netze die Abwehrmaßnahmen im Interesse der Wahrheit nicht von vorneherein zum Scheitern verurteilt? In den letzten Jahren haben sich ganz unterschiedliche Akteure in den Kampf gegen Fakes eingereiht: etablierte Printmedien wie die amerikanische "New York Times" oder die französische "Le Monde", die sich mit ihrer serösen, an den Fakten orientierten Berichterstattung zu Leuchttürmen einer liberalen Öffentlichkeit stilisierten und mit ihrem antipopulistischen Antifake-Kurs auch neue Leser gewinnen konnten.
Aber auch Nachrichtenagenturen und nicht zuletzt - vor allem westliche - Regierungen, die die externen Angriffe auf Institutionen und Wahlen nicht mehr hinnehmen wollen. Schließlich aber auch Unternehmen wie etwa Adobe Photoshop oder Google, die unter dem Verlust der Glaubwürdigkeit ihrer Medienprodukte kommerziell zu leiden haben.
Auch die Investitionen in technische Hilfsmittel zur Wahrheitsfindung in den Onlinemedien haben in den letzten Jahren massiv zugenommen. "Faktencheck" wurde am Beginn des 21. Jahrhunderts zum neuen Modewort im Journalismus, weit über den digitalen Bereich hinaus. Alle größeren Medienkonzerne haben inzwischen eigene Abteilungen zur Überprüfung von Meldungen und zur Richtigstellung von Falschmeldungen aufgebaut. Am frühesten hatte die BBC damit begonnen, als sie 2005 den BBC Verification Hub einrichtete, um die täglich größer werdende Masse an Social-Media-Informationen zu sichten, sieben und überprüfen. Diesem Beispiel folgten viele andere Medien. Auch "Le Monde" erregte mit der 2017 eingerichteten Anti-Fake-News-Plattform "Décodex" große Aufmerksamkeit und erntete viel digitalen Zulauf verunsicherter Leser.
Bild- und Datenforensik
Einen etwas anderen Weg schlug die 2013 mit Unterstützung der EU gegründete und sukzessive ausgebaute Online-Plattform "Reveal" ein, die Journalisten, aber auch anderen professionellen Medienarbeitern Instrumente zur Überprüfung von Informationen aus sozialen Netzwerken anbietet. Unter anderem hat sie Online-Werkzeuge zur Sichtung und Bewertung von Twitter-Nachrichten im Programm, hält einschlägige Workshops ab, gibt juristische Expertisen und betreibt zusammen mit Medienunternehmen Grundlagenforschung im Social-Media- Bereich.
Mittlerweile gibt es allein in Europa unzählige Faktencheck- und Korrektur-Plattformen. Sie reichen von einfachen Apps bis hin zu technisch hochkomplexen Methoden der Bild- und Datenforensik. Die simplen Instrumente bieten häufig auch einfache Lösungsstrategien an. Sie suggerieren, die einzelnen Internetbenutzer könnten im Handumdrehen die Wahrheit von der Lüge unterscheiden. Die Wirklichkeit ist aber viel komplexer. Denn beim erfolgreichen Kampf gegen fake news geht es nicht so sehr darum, einzelne Manipulationen zu erkennen und aus dem Weg zu räumen. Die Lüge im Netz ist längst ein weit verzweigtes und rapide sich bewegendes Netzwerk von Verweisen und Verbindungen, das nur schwer zu kontrollieren ist.
Wenn etwa ein gefälschtes Bild entdeckt wird, kann dieses schon millionenfach geteilt und weitergeleitet worden sein. Die Urheber sind schwer zu identifizieren, da die großen internationalen Medienplattformen wie Facebook und Google nicht die originalen Meta- oder Rohdaten speichern, sondern verkleinerte, "gereinigte" Kopien, die das Spurenlesen erschweren. Das bedeutet: Der Einzelne hat oft wenig Chancen. Nur große, materiell und gut ausgestattete, eng miteinander kooperierende Kollektive können diesen Kampf gegen Fakes aufnehmen.
Fotoähnliche Bilder
Und dennoch: Die enorme apparative und technologische Aufrüstung wird die weitverbreitete Angst vor Bildern, die lügen, nicht beseitigen können. Denn die "Wahrheit", die man im analogen Zeitalter noch am Material der "originalen" Bilder, etwa der Negative, festmachen konnte, ist in der digitalen Ära schwerer greifbar geworden.
Das zeigt sich etwa an jenen fotoähnlichen Bildern, die in allerjüngster Zeit mit Hilfe Künstlicher Intelligenz generiert werden. Menschliche Urheber haben diese "Fotos" keine mehr, originale Rohdaten gibt es ebenfalls keine und auch der klassische Urheberrechtsschutz greift hier nicht. Vielleicht eröffnet der Übergang von der einfachen digitalen Welt zur komplexen Ära der Artificial Intelligence, deren Zeugen wir gerade sind, ein ganz neues Zeitalter, in dem die Frage nach wahren und falschen Bildern gänzlich neu gestellt werden muss. Aber verschwinden, so steht zu vermuten, werden die Ängste vor Fälschungen nicht. Denn diese Ängste verdanken sich nicht nur handfesten Manipulationen, die man aufdecken kann, sondern mehr noch einer weitverbreiteten kollektiven Verunsicherung, die mit noch so ausgefeilten Fakten- und Bilderchecks nicht aus der Welt zu schaffen ist.
Solange Ängste, Gerüchte und Verschwörungstheorien in unserer Gesellschaft blühen, zirkulieren auch Bilder, die lügen. Denn sie werden dringend gebraucht, als gesellschaftliche Symptome, die diesen Ängsten Ausdruck verleihen.
Das Festival FOTO WIEN 2023 (bis 30. Juni 2023) steht unter dem Motto "Photography lies. Die Lügen der Fotografie". Opening days 2., 3., 4. Juni im Wiener MuseumsQuartier, mit Ausstellungen, Vorträgen, Gesprächen und einer Fotobuchmesse. Programm und Details: www.fotowien.at
Anton Holzer ist Fotohistoriker, Ausstellungskurator und Herausgeber der Zeitschrift "Fotogeschichte". Dieser Beitrag ist die gekürzte Fassung eines Essays aus dem Ausstellungskatalog zur FOTO WIEN im Steidl Verlag.
www.anton-holzer.at