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Lukaschenko droht Kiew mit Krieg

Von Gerhard Lechner

Politik

Steigt Belarus nach den jüngsten russischen Erfolgen doch noch an der Seite des Kremls in den Ukraine-Feldzug ein?


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Alexander Lukaschenko ist, obgleich er in der Öffentlichkeit meist den emotionalen Hitzkopf gibt, vor allem als bauernschlauer Machtpolitiker bekannt. Der diktatorisch regierende weißrussische Staatschef ist jedoch seit der Niederschlagung der Proteste gegen ihn 2020 und der darauffolgenden Sanktionen des Westens enger denn je mit seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin verbunden. Ohne Putins Unterstützung hätte Lukaschenko Schwierigkeiten gehabt, sich an der Macht zu halten.

Entsprechend feierlich klingen die Treueschwüre des Weißrussen. Am Montag sprach Lukaschenko davon, dass er Putins Vorgehen gegen die Ukraine "vom ersten Tag an" unterstützt habe und dass sein Belarus so eng mit dem russischen Bruderstaat verbunden sei, "dass wir praktisch eine gemeinsame Armee haben."

Doch trotz der großen Worte und des feierlichen Zelebrierens slawischer (Waffen-)Bruderschaft, trotz auch der massiven Abhängigkeit Lukaschenkos vom Kreml hat sich der Autokrat von Minsk bisher zu einem Schritt nicht durchringen können: nämlich an der Seite Russlands in den Krieg gegen die Ukraine einzusteigen.

Zwar durften russische Truppen Belarus als Aufmarschgebiet für ihren gescheiterten Angriff auf die ukrainische Hauptstadt Kiew nutzen. Bis heute gibt es zudem russische Raketenangriffe auf die Ukraine von weißrussischem Territorium aus.

Ukrainische Armee berichtet von Kriegsvorbereitungen

Minsk hat seine Truppen allerdings nicht selbst Richtung Kiew oder Lemberg in Marsch gesetzt. Zumindest bis jetzt. Denn Lukaschenkos Hinweis vom Montag, man habe praktisch eine gemeinsame Armee mit Russland, ließ nicht nur den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj aufhorchen, der die Aussage als "vor allem für das belarussische Volk gefährlich" wertete. Er sorgte auch für Unruhe in der Ukraine und im Westen, wo man eine zunehmende Verwicklung Weißrusslands in die Kampfhandlungen befürchtet.

Und das nicht ohne Grund: Schon am vergangenen Wochenende hatte Lukaschenko Spekulationen, Belarus könne an der Seite Russlands in den Ukraine-Krieg einsteigen, Nahrung gegeben, indem er Kiew Raketenangriffe auf belarussisches Territorium vorwarf. "Wir werden provoziert", sagte Lukaschenko der staatlichen Nachrichtenagentur Belta. Die ukrainische Armee hätte versucht, militärische Einrichtungen in Belarus anzugreifen. Die Raketen seien jedoch allesamt abgefangen worden. Der weißrussische Diktator drohte mit militärischer Vergeltung, sollte es einen Angriff auf sein Land geben.

Zwar sind unabhängige Beobachter wie der weißrussische Politikwissenschafter Artjom Schraibman der Ansicht, dass es keinerlei Belege für ukrainische Raketenangriffe auf weißrussisches Territorium gebe. Doch auch Militärschläge, die nie stattgefunden haben, lassen sich bekanntlich fingieren und als Grund für einen Einstieg in den Krieg verkaufen.

Zumal auch die ukrainische Armee von möglichen Kriegsvorbereitungen in Belarus berichtet: In den Grenzregionen Brest und Gomel, hieß es, werde die Errichtung von Pontonbrücken geübt. Im westukrainischen Lemberg bereitet man sich laut Bürgermeister Andrij Sadowyj sicherheitshalber bereits auf eine "Eskalation" seitens Weißrusslands vor. Dort befürchtet man, dass belarussische Truppen durch eine Invasion die Versorgungswege zwischen Lemberg und der polnischen Grenze abschneiden könnten. Damit wäre der Nachschub westlicher Waffen in die Ukraine empfindlich gestört, wenn nicht so gut wie unterbunden.

Würde aber Belarus eine solche Invasion überhaupt gelingen? Daran zweifeln viele. Anders als die ukrainische Armee ist die weißrussische alles andere als kampferfahren, sie ähnelt eher den ukrainischen Truppen aus der Zeit des gestürzten Ex-Präsidenten Wiktor Janukowitsch.

Auch Schraibman bezweifelt im Gespräch mit der "Wiener Zeitung", dass es Belarus gelingen könnte, Richtung Lemberg vorzustoßen. Trotz der Intensität der Kämpfe in der Ostukraine würde es den Ukrainern wohl gelingen, weißrussische Truppen aufzuhalten. Zumal die im Fall des Falles nicht sonderlich motiviert sein dürften: "Laut Umfragen sprechen sich 90 bis 95 Prozent der Belarussen gegen Truppenentsendungen in die Ukraine aus", berichtet Schraibman.

Lukaschenko weiß, dass er auf die alles andere als bellizistische Stimmung in der Bevölkerung Rücksicht nehmen muss, will er sich nicht wieder massive Probleme einhandeln: "Seine augenblicklich noch vorhandene Unterstützung im Volk basiert darauf, dass seine Anhänger meinen, es sei ihm zu verdanken, dass sich Belarus nicht im Krieg befindet", sagt Schraibman.

Das Wort Krieg weckt in Weißrussland nämlich noch grausamere Erinnerungen als in der Ukraine: Das Territorium des heutigen Belarus war das im Zweiten Weltkrieg am stärksten verheerte Gebiet. Ein ganzes Viertel der Bevölkerung fiel dem Morden zum Opfer.

Fragile Herrschaft würde nachhaltig erschüttert

Das ist einer der Gründe, weshalb viele ältere Weißrussen die diktatorische Herrschaft Lukaschenkos lange zu ertragen bereit waren: Der Umstand, dass es keinen Krieg gibt, dass Ruhe herrscht, wurde im traditionellen Obrigkeitsdenken dem Präsidenten zugerechnet. Davon zehrt Lukaschenko noch heute - auch weil es dafür mittlerweile rationale Gründe gibt: Eine prowestliche Regierung in Minsk würde wohl, ganz wie in der Ukraine, den Kreml militärisch auf den Plan rufen. Das strategisch für Moskau noch viel wichtigere Belarus würde dann Kampfgebiet. Ein Einstieg in den brutalen Ukraine-Krieg könnte die fragile Lukaschenko-Herrschaft in Belarus freilich nachhaltig erschüttern. "Ich glaube nicht, dass er das riskieren will", mutmaßt Schraibman.

Warum aber dann die Drohungen und Anschuldigungen gegen Kiew und die Ergebenheitsbezeugungen gegenüber dem Kreml? "Die Vorwürfe gegen die Ukraine könnten dem Zweck dienen, die russischen Luftschläge von weißrussischem Gebiet aus vor den eigenen Anhängern zu rechtfertigen", analysiert der Politologe. "Außerdem soll die Drohkulisse gegenüber Kiew bewirken, dass ukrainische Truppen im Norden gebunden bleiben. Das schwächt die Verbände Kiews im Donbass."

Was aber, wenn auch dieses Mal, wie beim russischen Angriff gegen die Ukraine, eine Entscheidung scheinbar wider alle Vernunft getroffen wird? "Ich analysiere nur die rationalen Argumente", sagt Schraibman - und er gibt zu bedenken, dass Politiker ihre Entscheidungen nicht immer nach Vernunftkategorien treffen.