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Ja, es ist heiß. Sommerlich. Urlaublich. Da schreibt man schon einmal eine Ansichtskarte. Und als Dichter vielleicht eine im Zeilenfall. Tanja Dückers hat mit ihrem Gedicht "Kreidebilder" jetzt den Lyrikwettbewerb 2015 der "Bibliothek deutschsprachiger Gedichte" gewonnen. In dem Werk heißt es beispielsweise: "Wir warten auf ein Schiff oder / den Regen oder die Sonne oder / auf unser Essen", und ich frage mich ernsthaft, wieso die Autorin nicht auf ein Taxi, eine frische Brise oder einen gut gekühlten Campari mit Soda gewartet hat. Aber so hat halt jeder andere Urlaubspräferenzen.
Die ganze Warterei ist enervierend, und schon passiert das Unfassbare: "Klebe falsche Briefmarken / auf die Urlaubskarten / verliere meine Uhr." Kann das eine der Empfänger durch Begleichen des Strafportos ins Reine bringen, braucht man für das andere schon etwas Glück auf dem Fundamt. Doch ich atme auf, es gibt ein kleines Glück in der Tragödie: "liebe dich länger als sonst" (heraus mit der Sprache: wie lange? Ungefähr, wenigstens). Und was geschieht nach solch ungewohnt langer Liebe? - "Du malst mit Kreiden auf Holzstücke / die Du findest / bis das Essen kommt oder der Regen oder /das Schiff / und wirfst sie dann ins Meer". Es soll schon kürzere Liebe bemerkenswertere Folgen gezeitigt haben.
Tanja Dückers ist eine der führenden Intellektuellen Deutschlands und gilt als bemerkenswerte Autorin. Selbst einer solchen kann ein Gedicht misslingen. Dass es dennoch mit einem Preis ausgezeichnet wird, sagt also vor allem etwas über die Jury aus. Vielleicht war sie reif für den Urlaub. Oder für längere Liebe.