"Nach dem PISA-Schock": Vieles ist ins Wanken geraten durch das "Programme for International Student Assessment", wobei diese OECD-Studie 2000 nach der Auswertung der Ergebnisse besonders im Bereich Lesen für Aufruhr sorgte. Zu Recht, denn von der Viertelmillion der in 31 Staaten getesteten 15-16jährigen Schulpflichtabsolventen können zwölf Prozent Gelesenes gerade noch verstehen, bei sechs Prozent reicht's nicht einmal dazu!
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Und, was noch schlimmer ist: Die deutschsprachigen Länder heben sich davon keineswegs ab, ganz im Gegenteil: In Deutschland und der Schweiz wird der Durchschnitt sogar unterschritten, einzig Österreich liegt mit zehn respektive vier Prozent darüber. Deshalb kann kein Jubel aufkommen, schaut man nach oben: Den höchsten Level der fünf Kompetenzstufen (die Lösung komplexer Leseaufgaben samt Analyse des Textes und daraus abgeleiteten Erkenntnissen wurde verlangt) erreichen im OECD-Durchschnitt zehn Prozent - in Österreich, Deutschland und der Schweiz sind es nur neun Prozent (in den USA, auf deren Breitenbildung wir mitleidig hinabzusehen pflegen, kommen zwölf Prozent auf diesen Rang)!
Lesesieger Finnland
Die Leistungstabelle der Staaten wurde natürlich überall publiziert, heftig verglichen und sorgte besonders bei unserem nördlichen Nachbarn für beträchtlichen Wirbel, verschärft noch durch den Streit wegen der Ergebnisse der einzelnen Bundesländer, denn die wesentlich besseren Bayern etwa schmollten, mit dem bundesweit schlechten Durchschnitt in einen Topf geworfen zu werden. Sofort artete die folgende bildungspolitische Debatte zu einem Hickhack der Parteien aus, hatten doch die CSU/CDU-regierten Länder die Nase vor den SPD-dominierten, woraus auf eine Überlegenheit des differenzierteren Schulsystems (Haupt-, Realschule und Gymnasium) über die Gesamtschule geschlossen wurde. Doch - ebenfalls eine Gesamtschule gibt's in Finnland, das den "Lesewettbewerb" gewann: 50 Prozent erreichen dort Level 5 bzw. 4, nur 19 Prozent 2 respektive 1 - die Vergleichszahlen für Österreich (34/32) oder gar Deutschland (28/35) nehmen sich dagegen trist aus.
Nur am Schulsystem kann's also nicht liegen, vielmehr offenbar daran, wie dieser Rahmen ausgefüllt wird. Und da liegen zwischen jener Gesamtschule, in der Einheitsbrei auf niedrigst möglichem Niveau serviert wird, damit auch weniger Begabte ihren Teil verschlingen mögen, und dem finnischen Modell Welten. Dort gehen zwar alle in dieselbe Schulform, diese aber weist eine derart große innere Differenzierung auf, dass Hochintelligente ebenso mit ihren Talenten wuchern wie schwach Befähigte gefördert werden können - wozu den Schulen natürlich entsprechende personelle und finanzielle Mittel zur Verfügung stehen müssen.
Aber auch Geld allein macht nicht glücklich: So sind in der BRD jene, die das weitaus meiste für jedes Schulkind ausgeben, ganz unten auf der Skala der Lesekompetenz zu finden, nämlich die Freien Städte Bremen und Hamburg (1999 errechnete Bayern, der Lese-Spitzenreiter, 4.800 Mark (2.454 Euro), Bremen, das Schlusslicht, 6.200 Mark (3.170 Euro) pro Kopf).
Familiäre Motivation
Wenn's weder bloß am Schulsystem noch an den pekuniären Aufwendungen dafür liegt, ob gute Erfolge erzielt werden - woran dann? Vor allem: Nicht allein an der Schule! Denn das beweist die PISA-Studie zum Entsetzen sozialutopistischer Pädagogen schlagend: Lesen muss man auch in der Familie lernen! Wenn familiäre Motivation fehlt, kämpft der Unterricht gegen Windmühlen.
Es kann also nicht die Schule allein sein, die das Wunder in Finnland vollbringt, schon von klein auf und während ihrer Ausbildung müssen finnische Kinder in ein anderes gesellschaftliches Umfeld eingebettet sein als hierzulande. Ist es, wie der Direktor einer österreichischen Pädagogischen Akademie nach einem Finnland-Besuch formulierte, die selbstverständliche Bedeutung des "Lesens als Teil der familiären und gesellschaftlichen Kultur" oder, noch umfassender, "die Kultur einer grundsätzlichen Leistungsbereitschaft in der ganzen Gesellschaft"? Und: Gibt es diese Basis bei uns nicht? Wie schafft man sie? Das der Schule aufzubürden, überforderte diese völlig!
Lesen und lernen können
Was nicht heißt, dass die Schule keine Reaktion auf die
PISA-Ergebnisse zeigen sollte. In der Schweiz will man bildungspolitische Schnellschüsse vermeiden, zuerst zusätzliche Analysen der Studie durchführen und erst dann über Maßnahmen entscheiden.
In Deutschland witterte die ziemlich machtlose Bildungsministerin ihre Chance nach dem katastrophalen Abschneiden und verlangte bundesweit einheitliche Leistungsstandards und bekam prompt von der Kultusministerkonferenz beschieden, dass einzig die Länder für deren Bildungspolitik zuständig seien und diese sich sowieso bereits auf gemeinsame Lesenormen geeinigt hätten - wie man zu denen gelange, sei selbstverständlich auch Sache jedes Landes für sich.
Bei uns, die wir zum Glück weniger hart betroffen sind und mit den "PISA-Plus"-Recherchen bereits weitere Daten zu den OECD-Werten erhoben und ausgewertet haben, rief das Bildungsministerium gemeinsam mit dem rührigen Österreichischen Buchklub der Jugend die Initiative "LESEFIT" ins Leben: "Lesen können heißt lernen können" lautet ihr Motto. Die durch PISA bereits bewiesene Lesequalität soll gesichert, etwa noch unterentwickelte Kompetenzen durch Förderung gesteigert und die Lesefreudigkeit erhöht werden. Das ist besonders bei der männlichen Jugend dringend nötig, die sich als lesemuffelig auswies, zumindest was die herkömmlichen Medien betrifft - wohingegen die Mädchen beim Internet-Gebrauch weit nachhinken. Wohlüberlegt also, dass das LESEFIT-Logo ein lachendes Buch zeigt, an dem eine Computer-Maus baumelt. Denn heutzutage wird eben nicht nur im Buche geschmökert, ist Lesen nicht gleichzusetzen mit der Lektüre von Literarischem. Auch sinnvolles Internetsurfen erfordert eine hohe Lesekompetenz zum Auffinden, Ordnen, Auswählen und Verwenden der gebotenen überreichen Information.
Umdenken der Gesellschaft
Die Schule mag dafür alle "lesefit" machen wollen. Ob sie es kann und was die PISA-Studie sonst noch aufdeckte, dafür bedürfte es eines gesamtgesellschaftlichen Umdenkens.
Damit nicht noch heute Unterprivilegierte eine Domestikin, die sie nicht haben, in einer Sprache, die sie nicht sprechen, wie Weiland der baronisierte, aber ungebildete Ochs auf Lerchenau hilflos wie hoffnungsfroh fragen müssten: "Kann Sie Geschriebenes lesen?"