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Machtdemonstration in Barcelona

Von WZ-Korrespondent Manuel Meyer

Politik

Hunderttausende Menschen demonstrierten für die Loslösung ihrer Provinz von Spanien.


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Barcelona. Xavier Boloix schiebt sich im Zentrum Barcelonas durch die Menschenmassen Richtung Placa Catalunya. Er stammt aus Esterri d’Aneu, einem 700-Seelen-Dorf in der Nähe des Pyrenäen-Gebirges, und sucht den Abschnitt auf der Aragó-Straße, der seiner Region beim Unabhängigkeitsmarsch zugeordnet wurde.

Pärchen, Jugendliche, ganze Familien mit Kindern und Großeltern haben sich am Montag in der Mittelmeermetropole versammelt, um für die Unabhängigkeit Kataloniens zu demonstrieren. Vor allem aber gehen sie für ihr Recht auf die Straße, wie geplant am 1. Oktober ein Referendum über die Abspaltung ihrer Region von Spanien abstimmen zu dürfen.

Xavier, 46 Jahre, kräftig gebaut, rote Haare, verantwortlich für die technische Instandhaltung der unweit seines Dorfes gelegenen Skistation, trägt wie hunderttausende Andere ein neongelbes T-Shirt mit einem "Sí" zur Unabhängigkeit. "Wir Katalanen werden vom spanischen Staat unterdrückt. Man respektiert weder unsere Sprache noch unsere Kultur. Außerdem beutet man uns aus. Als wirtschaftsstärkste Region müssen wir andere, ärmere Regionen miterhalten", erklärt Xavier.

So wie er denken nicht wenige der 7,5 Millionen Katalanen. Schon seit sieben Jahren organisieren separatistische Bürgerbewegungen deshalb am 11. September, dem katalanischen Nationalfeiertag (Diada), Massendemos für die Unabhängigkeit. Wie in vergangenen Jahren nahmen auch am Montag über eine Million Menschen an dem Umzug teil.

Eine dieser Bürgerbewegungen ist die Katalanische Nationalversammlung ANC, der auch Xavier Boloix angehört. Mit fünf Bussen und Privatautos sind er und mehrere hundert Unabhängigkeitsbefürworter aus Esterri d’Aneu und den Nachbardörfern angereist. Langsam kämpft er sich durch die Menschenmasse. Viele haben sich Esteladas, Kataloniens Unabhängigkeitsflaggen, übergezogen oder halten sie in den blauen Spätsommerhimmel Barcelonas.

Feststimmung. Katalanische Folklore-Gruppen treten auf. "Schauen Sie sich doch nur an, wie viele Leute gekommen sind. Glauben Sie wirklich, der spanische Staat kann verhindern, dass wir am 1. Oktober demokratisch über unsere Zukunft als Volk abstimmen?", fragt Boloix. Aber genau das wird die spanische Zentralregierung in Madrid versuchen. "Dieses Referendum wird nicht stattfinden", versichert Ministerpräsident Mariano Rajoy immer wieder.

Keine Mehrheit für Loslösung

Das Recht hat Rajoy dabei auf seiner Seite. "Die Verfassung erklärt die Einheit Spaniens als unantastbar. Referenden dieser Art sind nicht vorgesehen, erst recht nicht die einseitige Unabhängigkeitserklärung einer Autonomie", stellt Xavier Arbós, Verfassungsrechtler von der Universität Barcelona, klar. Nach jüngsten Umfragen zweifeln selbst 56 Prozent der Katalanen an der Legitimität des vom Verfassungsgericht suspendierten Referendums. 60 Prozent der Spanier unterstützten Rajoy in seinem Vorhaben, den Volksentscheid zu unterbinden. Und laut jüngsten Umfragen verfügen die Unabhängigkeitsbefürworter mit 41 Prozent nicht einmal über eine Mehrheit.

Rajoy ist daher zum Handeln entschlossen. Nachdem die regierende, separatistische Mehrparteien-Allianz Junts pel Si (Gemeinsam für das Ja) im katalanischen Regionalparlament vergangene Woche ein Referendums- und Übergangsgesetz zur Eigenstaatlichkeit verabschiedete, ließ die Zentralregierung die Gesetze sofort vom Verfassungsgericht für nichtig erklären. Mehr noch: Es wurde gegen Kataloniens Ministerpräsident Carles Puigdemont, gegen sämtliche Mitglieder der Regionalregierung sowie gegen die Präsidentin des Regionalparlaments Carme Forcadell Strafanzeige gestellt. Die Staatsanwaltschaft bezichtigt sie wegen des Verstoßes gegen das Verbot des Verfassungsgerichts des zivilen Ungehorsams, Amtsmissbrauchs und Veruntreuung öffentlicher Gelder. Ihnen drohen hohe Geldbußen, Amtsenthebungen oder sogar Haftstrafen.

"Kann uns nicht ignorieren"

Die paramilitärische Guardia Civil durchsuchte in den vergangenen Tagen bereits verschiedene Redaktionen separatistischer Zeitungen und Druckerei nach Wahlurnen. Damit die Stimmzettel nicht konfisziert werden können, sind sie im Internet zugänglich. Jeder Wähler soll sie selber ausdrucken und zur Wahl mitbringen. Puigdemont selber schreckt vor den juristischen Maßnahmen und Polizeiaktionen der spanischen Zentralregierung nicht zurück. Er beruft sich auf das internationale Selbstbestimmungsrecht der Völker, das in der UN-Charta garantiert wird. Das Problem: "Die UN-Charta aus den 60er Jahren wurde mehrmals modifiziert. Heute steht das Selbstbestimmungsrecht nur noch Kolonien zu oder Völkern, die wegen ihrer Volkszugehörigkeit unterdrückt werden. Das ist in Katalonien natürlich nicht der Fall", so Verfassungsrechtler Arbós.

"Die Mehrheit der Katalanen will wählen. Wir hätten ein mit Madrid ausgehandeltes Referendum bevorzugt. Aber die spanische Regierung will nicht verhandeln, nicht einmal über das Thema reden. Uns bleibt keine andere Möglichkeit", entgegnete Puigdemont am Montag vor ausländischen Journalisten kurz vor Beginn der Massendemonstration. Er sei sich darüber im Klaren, dass die Zentralregierung und die Richter das Ergebnis des Referendums nicht akzeptieren werden. "Wir werden bei einer massiven Teilnahme beim Referendum aber das Recht gewinnen, angehört zu werden. Nicht nur Madrid, auch die Europäische Union und die internationale Gemeinschaft können nicht weiter ignorieren, wenn Millionen von Menschen über ihre Zukunft entscheiden", hofft der 54-jährige Ministerpräsident Kataloniens.

Angst vor verheerenden Bildern

Ob es überhaupt zur Volksbefragung kommen wird, ist allerdings fraglich. Einige Bürgermeister, vor allem der großen Städte, scheinen sich dem Druck Madrids zu beugen. Sie wollen sich nicht strafbar machen, neigen dazu, keine Räumlichkeiten für das Referendum zur Verfügung zu stellen. Doch der Großteil der über 940 katalanischen Gemeinden unterstützt das Referendum. "Theoretisch könnte Rajoy den Artikel 155 anwenden, die Regionalregierung ihres Amtes entheben und geltendes spanisches Recht notfalls mit der Polizei durchsetzen", versichert Verfassungsrechtler Xavier Arbós. Doch es gibt auch berechtigte Zweifel an dieser Maßnahme. "Sie ist juristisch sehr kompliziert. Außerdem wären die Fotos und Fernsehbilder von spanischen Polizisten, wie sie bei einem Referendum, an dem Millionen Bürger teilnehmen wollen, Urnen mit Gewalt entfernen, verheerend", meint der katalanische Politologe Joan Botella aus Barcelona.

Unabhängig ab Herbst 2018

Auf jeden Fall würden ein solcher Einsatz das extrem aufgeheizte Verhältnis zwischen Spanien und Katalonien noch weiter verschlechtern. Wie angespannt die Situation ist, sah man bereits vor drei Wochen, als König Felipe und Ministerpräsident Rajoy auf der Solidaritätskundgebung für die Opfer der islamistischen Anschläge von Barcelona und Cambrils ausgepfiffen wurden. Wenn tausende Unabhängigkeitsbefürworter einen Protestmarsch gegen den Terror für ihre politischen Forderungen missbrauchen, ist die Atmosphäre mehr als angespannt.

Doch niemand weiß, was am 1. Oktober passieren wird. Für Spanien steht viel auf dem Spiel. Denn Katalonien macht ein Fünftel der gesamten Wirtschaftsleistung aus. Und mit Barcelona und der Costa Brava ist die Provinz an der Grenze zu Frankreich das wichtigste Touristenziel in Spanien. Und für die Separatisten steht fest: Sollte am 1. Oktober das "Sí" eine Mehrheit bekommen, werde man innerhalb von 48 Stunden die Unabhängigkeit von Spanien ausrufen und einen Übergangsprozess einleiten, der spätestens im Herbst 2018 in der kompletten staatlichen Eigenständigkeit enden soll. "Katalonien ist ein Pulverfass, das spätestens am 1. Oktober in die Luft gehen könnte. Doch die spanische Regierung will nicht einmal verhandeln. Das könnte Madrid nun teuer zu stehen kommen", meint auch Xavier Boloix.