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Irgendwann haben die menschlichen Urahnen damit angefangen, aufrecht zu gehen. Warum sie das getan haben, ist nach wie vor nicht geklärt. Nach der Standardtheorie wurden sie durch einen Klimawandel, der ihren Lebensraum immer weiter schrumpfen ließ, dazu gezwungen, von den Bäumen herabzusteigen und ihr Glück in der Savanne zu versuchen. Doch der Berliner Anthropologe Carsten Niemitz glaubt nicht an diese Theorie. Seiner Ansicht nach stammt der Mensch von amphibisch lebenden Hominiden ab.
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In Niemitz' Augen krankt die Standardtheorie der Menschwerdung daran, dass sie etliche Fragen nicht schlüssig beantworten kann: Warum ist der Mensch der einzige Primat, dessen Unterhaut von einer dicken Fettschicht durchzogen ist? Warum sind seine Hände im Unterschied zu denen aller anderen Menschaffen so altertümlich und unspezialisiert? Warum hat er stirnseitige Augen? Warum hat er derart lange Beine und derart große Füße? Und warum fühlt er sich nur wohl, wenn Wasser in seiner Nähe ist?
Nach Niemitz hat sich die Menschwerdung des Affen ganz anders vollzogen. Der Mensch, behauptet er, stammt von amphibisch lebenden Hominiden ab, die im Wasser die Vorzüge des aufrechten Gangs entdeckt haben. Erst im Wasser konnten sie sich regelmäßig mit der eiweißreichen Nahrung versorgen, die sie dringend für ihr ständig wachsendes, Energie fressendes Gehirn benötigten. Das klingt vielleicht skurril. Aber ob Meerkatzen, Makaken, Languren, Paviane, Mandrills oder Bonobos - watende, schwimmende und tauchende Affen, die sich von Muscheln, Schnecken, Krabben oder Fischen ernähren, gibt es jede Menge. "Es gab", sagt Niemitz, "für den Menschen viele Anreize, ein Leben am Wasser anzustreben. Die zwei wichtigsten: Das Nahrungsangebot ist dort rund ums Jahr größer als gleichmäßiger. Und: Die Nahrung, die in den Uferzonen zu ergattern ist, ist eiweißhaltiger. Dass die Urzeit-Menschen ihren Eiweißbedarf durch Großwildjagd decken konnten, halte ich für ein Gerücht. Diese Jagden waren gefährlich, brachten nicht genug Ausbeute und hätten die Männer zu stark dezimiert. Der Beitrag der sammelnden und fischenden Frauen zum täglichen Nahrungspensum wird viel zu sehr unterschätzt. Wohl wegen des klischeehaften Bildes sperrschleudernder und steinewerfender Männerhorden, das wir von der Steinzeit-Gesellschaft haben."
Das Wasser vieler Flüsse Afrikas sieht trübe und abgestanden aus, weil es reichlich Sedimente mit sich führt. Trotzdem gibt es an seiner Qualität nicht das Geringste auszusetzen, und man kann bedenkenlos von ihm trinken. Dieser Umstand wird auch den afrikanischen Hominiden nicht lange verborgen geblieben sein. Umso merkwürdiger ist es, dass sie ihren menschlichen Nachfahren eine - offenbar genetisch verankerte - Vorliebe für kristallklares Wasser hinterlassen haben. Niemitz fällt es nicht schwer zu erklären, warum die Evolution den frühen Hominiden eine solche Vorliebe eingepflanzt hat: Je trüber das Wasser war, desto schlechtere Chancen hatten sie, die Krokodile frühzeitig zu erspähen.
Menschen sind nicht gerade geborene Schnellläufer. Sie können es schon deswegen nicht sein, weil ihre übermäßig groß geraten Füße sie daran hindern. Man hat errechnet, dass es für einen 1,90 Meter großen Sprinter ideal wäre, wenn er sich mit den Füßen eines einjährigen Kindes fortbewegen könnte. Im Unterschied zu den flinken bodenlebenden Primaten haben Menschen außerdem den Nachteil, dass ihre Beinmuskulatur mit ziemlich kurzen Sehnen ausgerüstet ist. Doch wenn man mit großen Füßen nur langsam von der Stelle kommt, wozu sind sie dann gut? Die Konstruktion des menschliches Fußes, antwortet Niemitz, ist auf drei Dinge zugeschnitten: auf das Zurücklegen großer Entfernungen, auf langes Stehen - und auf das Waten in seichten Gewässern.
Der Mensch hat von den Urhominiden seine ungewöhnlich langen Beine geerbt. Lange Beine sind nützlich, wenn es sich darum handelt, im aufrechten zweifüßigen Gang Marathonstrecken durchzustehen. Doch mindestens ebenso nützlich sind sie, wenn man sich darauf spezialisiert hat, in seichtem Wasser seine Nahrung zu suchen. Lange Beine ermöglichen nämlich eine bessere Sicht, weil Wasser aus größerer Blickhöhe weniger spiegelt. Sie sparen Energie, denn je mehr der Körper aus dem Wasser herausragt, desto geringere Widerstände hat er zu überwinden. Lange Beine ermöglichen es, sich in tieferem Wasser schneller und sicherer zu bewegen, weil sie den Auftrieb vermindern und den Füßen mehr Traglast aufbürden.
Vierbeinig zu Lande und zweibeinig im Wasser?
Lange Beine zu haben, ist auch deswegen günstig, weil derjenige, der noch waten kann, wenn andere schon schwimmen müssen, weniger Risiken ausgesetzt ist. Und schließlich und für Niemitz entscheidend: Mit dem Laufvermögen der frühesten Hominiden war es zunächst nicht weit her, weil ihr Körperbau noch nicht optimal an den aufrechten zweifüßigen Gang angepasst war.
Sie waren deshalb lange Zeit zu unbeholfen und schwerfällig, um gegen die schnellen Raubtiere der Savanne bestehen zu können. Doch als watende Primaten konnten sie den Auftrieb und die Viskosität des Mediums Wasser für sich nutzen und ihre Handicaps dadurch zu einem erheblichen Teil wettmachen, und so blieb ihnen genug Zeit, um sich immer längere Beine und immer bessere Gelenke, Sehnen und Bänder zuzulegen. Niemitz hält es ohne weiteres für möglich, dass die Urhominiden anfangs an Land vierfüßig, im Wasser aber zweifüßig gegangen sind.
Neugeborene Gorillas, Orang-Utans und Schimpansen sehen merkwürdig aus. Mit ihrem von Falten zerfurchten Gesicht wirken sie wie vorzeitig gealterte Zwerge, und noch dazu ist ihr Körper spindeldürr. Demgegenüber kommen Menschen mit Fettpolstern am ganzen Körper auf die Welt, und eine beträchtliche Menge Fett schleppen auch die magersten Erwachsenen dauernd mit sich herum.
Ökologische Generalisten
Der Mensch ist der einzige Primat, dessen Unterhaut mit einer dicken Schicht aus Fettgewebe ausgestattet ist. Allerdings lagert sich bei Männern und Frauen weitaus das meiste Fett an den Hüften, am Bauch, an den Schenkeln und Waden ab. Diese Verteilung des Fettgewebes lässt in Niemitz' Augen nur einen Schluss zu: Ihre ursprüngliche Funktion hat darin bestanden, den Wärmeverlust beim Waten in Grenzen zu halten.
Die Urhominiden waren demnach gewiefte ökologische Generalisten, die mit den Verhältnissen am Boden ebenso gut zurechtkamen wie mit denen am und im Wasser. Aber auch die Angewohnheit, in den Bäumen zu klettern, dürften sie noch lange beibehalten haben - allein schon deswegen, weil sie einen Ort brauchten, wohin sie sich bei Gefahr und zum Schlafen zurückziehen konnten. Das Leben im Geäst ist allerdings selbst für Kletterartisten riskant. Erst kürzlich hat man festgestellt, dass bei den Lemuren Abstürze die zweithäufigste Todesursache sind und Verstauchungen und Knochenbrüche zum Alltag gehören. Doch auch wenn die Urhominiden geschickte Kletterer abgegeben haben -- dass sie jemals Baumspezialisten gewesen sind, hält Niemitz für ausgeschlossen. Dagegen spräche nicht nur der Umstand, dass die Hände des Menschen die stärkste Ähnlichkeit mit denen der Berberaffen, Rotgesichtsmakaken und Rhesusaffen haben - die im Gegensatz zu den Orang-Utans, Gorillas und Schimpansen Allroundtalente sind. Und dagegen spräche außerdem, dass die Augen des Menschen auf der Stirnseite liegen. Doch für ein gutes räumliches Sehen braucht der Baumbewohner Augen, die möglichst weit auseinander stehen.
Die Urhominiden hatten also Gründe genug, sich beizeiten aufzurichten - und dabei lernten sie, das Wasser zu schätzen. Und deshalb, vermutet Niemitz, finden ihre menschlichen Nachfahren nichts unwiderstehlicher als ein Haus mit Swimmingpool oder eine Villa mit Meerblick.
Eine schöne, gut durchdachte und von vielen Indizien gestützte Theorie. Ob sie tragfähig ist, müssen weitere Forschungen erweisen.