Europas wirtschaftlicher Einfluss sinkt, Demokratie als wichtigstes Exportgut.
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Wien. Mehr als 500 Millionen Einwohner und - gemessen am BIP - der größte Binnenmarkt. Tendenz allerdings sinkend. Außerirdische Beobachter könnten daraus dennoch den Schluss ziehen, die EU sei ein bestimmender Faktor, wenn es darum geht, die Spielregeln der internationalen Beziehungen festzulegen.
Die Realität zeichnet ein anderes Bild. Tatsächlich gelingt es der EU nur höchst selten, ihre politischen Vorstellungen auf globaler Ebene durchzusetzen. Zu diesem Schluss kommt ein aktuelles Forschungsprojekt des Wiener Instituts für europäische Integrationsforschung (eif) unter Leitung von Gerda Falkner ("EU Policies in a Global Perspective", ed. by Falkner und Patrick Müller, Routledge 2014), das am Montagabend präsentiert wurde. Einzig im Bereich der Handelsbeziehungen ist es Europa in den vergangenen Jahrzehnten gelungen, im Verein mit den USA Taktgeber internationaler Abkommen zu sein. In fast allen anderen globalen Politikbereichen (Migration, Landwirtschaft, nukleare Non-Proliferation, Umwelt, Ernährungssicherheit, etc.) ist die EU dagegen vorwiegend Importeur, nicht Exporteur von Regeln und Bestimmungen. Die Gründe: der Umstand, dass die Mitgliedstaaten der EU nur selten als einheitlicher Block agieren sowie der Aufstieg der Schwellenländer rund um China, Brasilien, Indien, Indonesien und Russland, die auf globaler Ebene zu wesentlichen Mitgestaltern werden. "Mit der einstigen ‚Friss oder stirb‘-Haltung der USA und Europas gegenüber dem Rest der Welt ist es heute unwiderruflich vorbei", ist der ehemalige EU-Agrarkommissar Franz Fischler überzeugt.
Dass Import von Politik nicht notwendigerweise negativ besetzt ist, zeigt sich am Beispiel der Finanz- und Schuldenkrise. Statt schlicht die Lösungsansätze der USA am Höhepunkt der Krise auf Europa zu übertragen, ließen es die EU-Regierungschefs zu, dass die Eurozone gezählte drei Mal unmittelbar vor dem Auseinanderbrechen war, erläutert Raimund Löw, Leiter des ORF-Büros in Brüssel. Wobei es für den Wirtschaftsforscher Fritz Breuss am Ende doch ein Politik-Import war, der wesentlich zur Entspannung beitrug: Mario Draghi, der Ende 2011 die Leitung der Europäischen Zentralbank übernahm, wusste als ehemaliger Banker der US-Großbank Goldman Sachs ganz genau, wie die Kapitalmärkte kalkulieren.
Umstrittenes TTIP als Chance?
Für Emotionen sorgte dann die Frage, ob nicht das geplante politisch höchst umstrittene Handelsabkommen der EU mit den USA (TTIP) angesichts des sinkenden globalen Einflusses der EU auch eine Chance sein könne, den globalen Handelsbeziehungen ihren Stempel aufzudrücken. Für Fischler wie Breuss sind die Zeiten definitiv vorbei, als der Westen seine Vorstellungen auf diese Weise dem Rest der Welt diktieren konnte. Beide plädieren für Handelsabkommen, die alle Wirtschaftsblöcke und Staaten miteinbinden. Löw dagegen warnte davor, dass ein Scheitern lediglich dazu führe, dass der Einfluss der EU weiter sinke.
Einigkeit bestand dagegen in der Kritik, dass die EU viel zu wenig mit ihrem wichtigsten Kapital wuchere: dem Export des europäischen Grundrechtskatalogs, des europäischen Demokratiemodells. Was jedoch nichts am internen Reformbedarf ändere: "Wir müssen akzeptieren, dass wir in der EU noch nicht das Governance-Modell zur Hand haben, um die Herausforderungen der nächsten 50 Jahre zu bewältigen", so Fischler. Dass dies auch auf die USA zutreffe, sei nur ein geringer Trost und ändere nichts daran, dass die EU einen neuen Anlauf für einen Verfassungskonvent benötige, wo die Rollenverteilung zwischen europäischer, nationaler und lokaler Ebene neu verteilt werden müsse. Ausnahmsweise könnte die Chance auf einen solchen Konvent nicht schlecht stehen: Immerhin fordern auch Jean-Claude Juncker und Martin Schulz, die beiden EU-weiten Spitzenkandidaten von Konservativen und Sozialdemokraten, eine neue Aufgabenverteilung.