Das anatolische Hinterland verdankt Premier Erdogan viel. Doch die Region ist ein Kernland des Predigers Gülen.
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Kayseri. Falls Rukiye momentan ein Problem mit ihrer politischen Orientierung haben sollte, so zeigt sie es nicht. Für die junge Frau steht fest, wem sie bei den mit Spannung erwarteten Kommunalwahlen in der Türkei am kommenden Sonntag ihre Stimme gibt: "Recep Tayyip Erdogan", sagt sie entschieden. Sie hält zum Ministerpräsidenten, der gar nicht zur Wahl steht, der aber den Urnengang zur Abstimmung über die Zukunft seiner Regierung und den auf ihr lastenden Korruptionsskandal erklärt hat.
Die 22-jährige Studentin an der Fakultät für Industriedesign der Melmiksah-Universität in der zentralanatolischen Metropole Kayseri schrecken die Korruptionsvorwürfe ebenso wenig wie das Verbot von Twitter und Youtube. "Es ist nicht schön, dass die Regierung Twitter abschaltet", sagt sie. "Aber wenn die sozialen Medien von Kriminellen missbraucht werden, gibt es keine Wahl." Die zierliche Studentin hat sich zurechtgemacht, als besuche sie eine Gala und nicht ein Informatikseminar. Sie trägt goldene Armreifen, ein Seidenkopftuch und hat sich aufwendig geschminkt. Rukiye und drei ebenfalls gut gekleidete Freundinnen sitzen in der modernen Cafeteria der Universität und bereiten sich auf eine Prüfung vor. Zwei der jungen Frauen wissen wie Rukiye bereits, wem sie ihre Stimme geben werden - Erdogans konservativ-islamischer Regierungspartei AKP die eine, der in Kayseri chancenlosen sozialdemokratischen Oppositionspartei CHP die andere. Die dritte ist noch unentschieden.
Es ist der Tag, an dem Erdogan plötzlich die Stimmbänder versagen und er auf den im Fernsehen übertragenen Massenkundgebungen plötzlich wie ein Falsettsänger klingt. Der Wahlkampf geht in seine Schlussphase. Der Premier hat sich Kayseri, Konya und Gaziantep, die wichtigsten Städte Zentralanatoliens, für das Finale am Freitag aufgespart, denn hier schlägt das Herz seiner "Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung". Sein Auftritt wird massiv beworben.
Aufschwung dank Erdogan
Der Premier erwartet nicht ohne Grund Dankbarkeit von den Menschen im einst vernachlässigten anatolischen Hinterland. Seine Partei hat die Region modernisiert und mit der gezielten Förderung kleiner und mittlerer Betriebe die Basis für einen rasanten wirtschaftlichen Aufschwung gelegt. Die Städte bieten ihren Bürgern jetzt moderne Wohnungen, Arbeit, eine gute Infrastruktur, und auch das Selbstbewusstsein der Menschen ist gewachsen. In der Vergangenheit holte die AKP hier bis zu 70 Prozent der Stimmen. Im konservativen "Korangürtel" der Türkei wird sich nun erweisen, ob die Stammwähler noch zu dem unter Druck geratenen Ministerpräsidenten stehen.
Kayseri und die gleichnamige Provinz mit rund 1,3 Millionen Einwohnern sind dabei in vielerlei Hinsicht ein Brennpunkt. Nicht nur, weil Staatspräsident Abdullah Gül aus der Stadt stammt. Besonders in den Fokus rückt Kayseri auch, weil die Metropole das Herz der reformmuslimischen Gülen-Bewegung ist, die Erdogan inzwischen als seinen politischen Hauptgegner betrachtet. Seit drei Monaten geht der Regierungschef gegen die Anhänger des in den USA lebenden Predigers Fethullah Gülen - einst ein enger Verbündeter Erdogans - vor. Er wirft ihnen vor, seine Regierung stürzen zu wollen, und lässt Gülen-Anhänger aus einflussreichen Positionen in Polizei, Justiz und Verwaltung entfernen. Damit hat er kurz vor wichtigen Wahlen einen zerstörerischen Streit im konservativen Lager vom Zaun gebrochen.
"Verräter", schreien ganzseitige AKP-Anzeigen in den größten türkischen Tageszeitungen. Gülen hat seine Anhänger seinerseits aufgerufen, diesmal auf keinen Fall die AKP zu wählen. Niemand weiß zwar, wie stark seine Anhängerschaft ist, die vor allem aus gut ausgebildeten Angehörigen der Mittel- und Oberschicht besteht. Doch Recep Bulut, der Vorsitzende des Journalistenverbandes von Kayseri, schätzt sie im Stadtgebiet auf rund ein Siebtel der Wahlberechtigten. Der Kampf des gläubigen Muslims Erdogan gegen die gläubigen Muslime Gülens bedroht die Wahlchancen der AKP-Kandidaten ausgerechnet dort am stärksten, wo die Partei am besten verankert ist.
"Total verunsichert"
"Für viele Stammwähler in Kayseri ist diese Situation kaum auszuhalten", sagt Bulut. "Sie lieben Erdogan, aber sie lieben auch Gülen. Sie wissen nicht, was sie tun sollen. Sie wollen nur eines: dass der Kampf von Muslimen gegen Muslime aufhört." Tatsächlich verdankt die Industriestadt zwar dem Premier fast alles, aber dem Prediger auch einiges. Die Gülen-Bewegung betreibt in Kayseri 60 Prozent der Privatschulen und die neue Universität. Sie sorgt damit für die Ausbildung von qualifizierten Fachkräften. Die wichtigsten Industriellen gehören der Bewegung an, darunter Haci Boydak, einer der reichsten Männer der Türkei. Nirgends hat Fethullah Gülen mehr Anhänger. Die Stadt ist die inoffizielle Hauptstadt der Gülenisten.
"Die Leute sind total verunsichert, aber keiner mag offen reden", sagt die bei Stuttgart aufgewachsene Unternehmerin Safak Civici. Ab 2003 baute sie in Kayseri zusammen mit ihrem Mann eine Möbelfirma auf, die rund 70 Prozent ihrer Produkte ins Ausland verkauft. Ihr Erfolg sei auch der Politik Erdogans zu verdanken, sagt sie.
Die lebhafte 50-Jährige glaubt, dass der Konflikt mit der Gülen-Bewegung der AKP in Kayseri schaden werde, auch wenn deren Wahlsieg wahrscheinlich nicht gefährdet sei. Viele Unternehmer seien mit Gülen verbunden, erzählt sie. Auch ihr Mann, der nicht zur Bewegung gehört, nehme regelmäßig an deren Versammlungen teil. "Sie treffen sich dienstags und sprechen über die Religion, vor allem aber übers Geschäft." Doch seit Erdogan massiv gegen die Gülenisten vorgeht, würden statt der 16 Gruppenmitglieder nur noch die Hälfte erscheinen. "Alle haben Angst um ihr Geschäft. Und viele wenden sich jetzt von Erdogan ab und der MHP zu", sagt Civici.
Die nationalistisch-kemalistische MHP kann sich in Kayseri und anderen AKP-Hochburgen Chancen ausrechnen, weil sie ebenfalls ein konservatives Programm vertritt, aber nicht gegen die Gülenisten auftritt. Außerdem kann die MHP, die in Kayseri bei den letzten Kommunalwahlen 23 Prozent erreichte, mit einem attraktiven Kandidaten punkten. Mustafa Özsoy hat sich im Innenministerium in Ankara als Kämpfer gegen die Korruption einen Namen gemacht und wirbt mit dem Slogan "Für eine saubere Politik". Der 45-jährige, kräftige Mann hält die Korruptionsvorwürfe gegen Erdogan und dessen inneren Machtzirkel für authentisch. Ihm zufolge in Kayseri steckten der AKP-Bürgermeister und seine Parteifreunde ebenso tief im Sumpf wie Erdogans Leute in Ankara und Istanbul. Neben der grassierenden Korruption hält Özsoy vor allem die wachsende Schere zwischen Arm und Reich für das Hauptproblem. "Es sind die Menschen, die arm und ungebildet sind, die dem Premier jedes Wort abnehmen und die Korruptionsvorwürfe nicht glauben", sagt er. Wie die Wahlen ausgehen, weiß aber weder Özoy noch irgendjemand anderer zu sagen. Wohl noch nie klafften die Zahlen der Umfrageinstitute in der Türkei dermaßen auseinander und waren dermaßen viele Menschen noch unentschieden.
Hoffen auf die Zukunft
An der Meliksah-Universität mag der junge Rektor Mahmut Mat lieber über die Errungenschaften der Hochschule reden als über Politik. Er versuche, die politische Debatte aus dem Unterricht herauszuhalten. "Ich glaube, dass es sich dabei um Geburtswehen einer besseren Demokratie handelt und sich die Lage bald beruhigen wird." Viele seiner Studenten hoffen das ebenfalls. Es sind die Kinder der Geschäftsleute von Kayseri, die an der Hochschule studieren; konservativ, aber nicht unkritisch, und im Moment vor allem eines: zutiefst verwirrt. Die Jusstudentin Elif schwankt noch zwischen Erdogan und der rechtskonservativen MHP. "Es schmerzt mich, dass Muslime sich bekriegen", sagt sie. "Ich werde mich wohl erst am Sonntag in der Wahlkabine entscheiden."
Stimmungstest für Erdogans präsidale Ambitionen
Knapp 53 Millionen Türken entscheiden am Sonntag über Bürgermeister und regionale Parlamente. Bei den letzten Lokalwahlen im Jahr 2009 hatte die AKP von Premierminister Erdogan mit 38,8 Prozent im Landesdurchschnitt alle anderen Parteien deutlich hinter sich gelassen. Auch wichtige Städte wie Istanbul und Ankara blieben in der Hand der AKP, die säkulare Republikanische Volkspartei (CHP) landete mit 23,1 Prozent weit abgeschlagen auf dem zweiten Platz. Auch diesmal wird sich die AKP wohl als stärkste Partei behaupten. Doch manche Umfragen prophezeien der Partei des Premiers, der den Urnengang zur Volksabstimmung über seine Regierung erklärt hat, einen Absturz weit unterhalb der zuletzt erreichten 38-Prozent-Marke.
Die Wahl ist als Stimmungsbarometer nicht nur deshalb wichtig, weil sie der erste Test seit den Gezi-Demonstrationen des vergangenen Sommers und den kürzlich aufgetauchten Korruptionsvorwürfen gegen die Regierung ist. Das Wahlergebnis wird auch mitentscheidend für die Frage sein, ob sich Erdogan im August um das Präsidentenamt bewirbt. Schneidet die AKP schlecht ab, dürfte Erdogan auf eine Kandidatur verzichten. Zudem wäre der seit einem Jahrzehnt unbesiegte Ministerpräsident politisch schwer angeschlagen. Selbst vorgezogenen Parlamentswahlen wären dann nicht mehr auszuschließen.