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Machtkampf in China tritt in neue Phase

Von Andreas Landwehr

Politik

Peking - Der Machtkampf zwischen Reformern und Hardlinern in China wurde 1989 zwar zu Gunsten der Konservativen entschieden, ist aber bis heute nicht zu Ende. Die am Wochenende in den USA erfolgte Veröffentlichung der "Tiananmen-Papiere" über die Beschlüsse zur brutalen Niederschlagung der Demokratiebewegung ist offensichtlich ein Versuch der Reformer, sich im Tauziehen um die Nachfolge von Staats- und Parteichef Jiang Zemin und Parlamentschef Li Peng rechtzeitig in eine günstige und stärkere Position zu rücken.


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Die Papiere enthüllen inhaltlich wenig Überraschungen, zeichnen aber ungewöhnlich plastisch das Bild einer gespaltenen politischen Führung, der Paranoia über einen vermuteten Umsturzversuch und die Macht der Revolutionsveteranen um den inzwischen verstorbenen "starken Mann" Deng Xiaoping.

Die Brisanz liegt im Zeitpunkt der Veröffentlichung, der Diskussion, die dadurch ausgelöst werden kann, und der Frage, wer dahinter steckt.

Es ist schwer vorstellbar, dass der unter Pseudonym in den USA aufgetretene und nicht zu identifizierende Chinese allein gehandelt hat. Die Aufzeichnungen der Treffen des Politbüros, der alten Männer um Deng Xiaoping und den damaligen Staatschef Yang Shangkun und ihrer Telefonate, die zu dem Militäreinsatz gegen die friedlichen Demonstranten führten, sind streng geheime Dokumente, die nicht irgendwo in Archiven herumliegen, sondern unter der Kontrolle des innersten Führungszirkels stehen.

Spekuliert wurde zwar über exilierte, einst hohe Funktionäre, die solche Aufzeichnungen besitzen können. Die "Tiananmen-Papiere", die 15.000 Seiten umfassen sollen, lassen die Hintermänner in Peking vermuten. Alles deutet auf Reformer, aber auch ein Racheakt des 1997 von Li Peng und Jiang Zemin gestürzten, damals drittmächtigsten Politikers Qiao Shi wäre denkbar. Als Geheimdienstchef hatte er Zugang zu den Akten.

Eine neue Diskussion über die Verantwortung für das Massaker am 4. Juni 1989 kann aber nur die reformerischen Kräfte stärken. Politisch schädlich wird es für Li Peng und selbst Jiang Zemin, der zwar keine Verantwortung dafür trägt, aber dessen Legitimität in Frage steht. Denn genau jene alten Männer, die den Schießbefehl gaben, holten ihn aus Shanghai, um Parteichef Zhao Ziyang zu ersetzen.

Doch die "acht Unsterblichen", wie Deng und seine Revolutionsveteranen genannt wurden, haben sich inzwischen doch als sterblich erwiesen. Ihre Erben Jiang Zemin und Li Peng wollen sich in den nächsten zwei, drei Jahren aus Altersgründen aus ihren Ämtern zurückziehen, aber wie ihre Ziehväter hinter den Kulissen die Fäden in den Händen halten. Der Machtkampf über ihre Nachfolge hat längst begonnen.