Die Taliban befinden sich auf dem Siegeszug. Alle Versuche, einen demokratischen Staat aufzubauen, scheitern an lokalen Machteliten. Ein Augenschein im Nordosten des Landes.
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Die Gewalt nimmt kein Ende. Im Gegenteil. Zahlreiche Gefechte zwischen den Taliban und Afghanistans Streitkräften erschüttern das Land seit Wochen und Monaten. Währenddessen befinden sich die US-amerikanischen Soldaten auf dem Rückzug, nur noch 2.500 sind aktuell in Afghanistan stationiert.
Was auch immer das im Februar 2020 ausverhandelte Abkommen zwischen den USA und den Taliban dem Land bringen soll - Frieden ist es bisher jedenfalls nicht. Aber worauf ist das fortwährende Scheitern des afghanischen Staates zurückzuführen? Worin liegen die historischen Wurzeln der Konflikte von heute? Und wohin geht Afghanistan?
Die Rolle Pakistans
Sommer 2019. Meine Berührungspunkte mit den Taliban sind die Erzählungen einer Minderheit Afghanistans, die sie fürchtet und verachtet. Und doch nicht weiß, wohin sich wenden, weil sie kein Vertrauen in die afghanische Regierung besitzt. Es sind Pamiris, mit denen ich spreche. Menschen schiitischen Glaubens, welche im Nordosten des Landes zu Hause sind. Ich befinde mich in Ishkashim, einer Siedlung der Provinz Badakh-shan, nahe der tadschikischen Grenze. Zentrum des Stadtgeschehens ist der Bazar mit seinen unscheinbaren Läden und staubigen Gassen. Die Stadt und der gleichnamige Distrikt stehen nicht unter Taliban-Vorherrschaft. Im Gegensatz zu einem Drittel des Landes.
Ein Schuhverkäufer winkt mich zu sich. Dass ich überhaupt etwas Dari, die afghanische Variante des Persischen, sprechen kann, ist Anlass zur Freude - auf beiden Seiten. Schon klappt er mir einen Stuhl auf und drückt mir eine Tasse Tee in die Hand. Mitten im Markttrubel plaudern wir. Ihm lässt die Frage keine Ruhe, wie die Menschen im Westen über Afghanen denken. Ich zögere, bin um Ehrlichkeit bemüht und stoße an die Grenzen meiner Persisch-Kenntnisse. Einige seien fest davon überzeugt, alle afghanischen Männer wären per se gefährlich, sage ich. Das seien die Taliban, die kämen vor allem aus Pakistan, sagt der Schuhverkäufer wenig überrascht, und dass Pamiris mit denen nichts zu tun hätten, nicht so wären wie die.
Ist Pakistan also der Grund allen Übels? Der Nachbarstaat spielte in der Tat eine große Rolle bei der Formation der Taliban, der "Religionsstudenten". Es handelte sich vor allem um paschtunische Afghanen, die vor dem Krieg mit der Sowjetunion nach Pakistan geflohen waren. In den frühen 1990er Jahren trieben der pakistanische Innenminister Babar und der pakistanische Geheimdienst ISI nachweislich den Aufbau der Terrororganisation voran, während Saudi-Arabien für die nötigen Finanzspritzen sorgte.
Dass zu Beginn Diplomaten aus den USA Taliban-Führern einen Besuch abstatteten, zeugt nicht gerade von viel Distanz oder gar Feindseligkeit. Aber immerhin ließen die USA damals die Finger davon, die Taliban direkt zu unterstützen. Zu Zeiten des Kalten Krieges war das noch anders. Die USA und Saudi-Arabien unterstützten in den 1980er Jahren diverse islamistische Kämpfer, Mujahedin genannt, mit Waffen- und Geldlieferungen. Ihre radikalislamische Ausrichtung schien gerade recht im Kampf gegen den gottlosen Kommunismus. 1991 war die Sowjetunion Geschichte.
Majestät Hindukusch
Nichtsdestotrotz: Die ultraorthodoxe sunnitische Ausrichtung der Taliban in vehementer Opposition zum Iran, dem schiitischen Nachbarn, missfiel keiner der politischen Mächte, die ihre Finger im Spiel hatten. Die Taliban formierten sich in religiösen Schulen, wo vor allem Waisenkinder unterrichtet wurden. Doch auch altgediente Mujahedin, die in Afghanistan wegen ihrer vergangenen Gräueltaten bei großen Teilen der Bevölkerung in Ungnade gefallen waren, mischten sich in ihre Reihen.
1996 eroberten die Taliban Kabul, worauf verfeindete Kriegsherren und Parteien ein Bündnis namens Nordallianz ins Leben riefen. Auch wenn die Macht der Taliban Ende 2001 nach einer massiven Antiterrorintervention der USA zwischenzeitlich als gebrochen galt, waren sie wenige Jahre später bereits wieder auf dem Vormarsch.
Mein Blick fällt auf die majestätischen Kolosse des Hindukusch, die sich am Rand der Siedlung aufbäumen. Der Hindukusch zieht sich über 800 Kilometer quer durch das ganze Land und beherrscht Afghanistan wie nichts und niemand sonst. Die vielen Gebirgstäler, die sich hervorragend als Rückzugs- und Widerstandshorte eignen, von denen aus Guerillakriege geführt werden (können) - sie waren mit ein Grund dafür, dass alle Versuche, Herrschaft zu zentralisieren, bisher scheiterten.
Dabei ist das Gebirge nur ein herausfordernder Lebensraum unter vielen im Land. Die vergangenen Jahrhunderte nannten nicht wenige große Reiche das heutige Afghanistan ihr Eigen - die Macht beschränkte sich aber praktisch immer auf ein paar städtische Zentren. Im Konflikt um die Vorherrschaft in Zentralasien blieb Afghanistan herrenlos und zerrissen.
Willkürliche Grenzen
Der Nationalstaat Afghanistan mit seinen bis heute unveränderten Grenzen wurde Ende des 19. Jahrhunderts von Russland und Großbritannien in die Welt gesetzt - und fungierte vor allem als Puffer zwischen den beiden Weltmächten. Im Norden lag das Ende des Kaiserreichs Russland und im Süden Britisch-Indien. Die Ziehung der Grenzen mutet willkürlich an. Das Gebilde zerschnitt im Norden das Fürstentum Badakhshan, teilte usbekische und turkmenische Siedlungsräume, aber auch Stammesgebiete der Paschtunen und Belutschen im Süden.
Diese Nation wurde eine Ansammlung von auseinandergerissenen Teilen mit unterschiedlichsten Herrschafts- und Gesellschaftsformen. Die größten Teile des Landes, die vielen unwirtlichen Naturräume weitab der Städte, organisierten sich selbst und folgten ihren eigenen Regeln. Da-ran hat sich bis ins 21. Jahrhundert erstaunlich wenig geändert - und daran scheitert auch heute noch der afghanische Nationalstaat. Denn die eklatanten Unterschiede zwischen Stadt und Land, zwischen Kabul und den vielen armen, oft unerbittlich konservativen Dörfern bestimmen das Leben über all die Jahrhunderte hinweg bis heute. Auf dem Land wurde der Staat als feindlicher Eindringling wahrgenommen, und schon vor dem Siegeszug der Taliban gab es kein staatliches Gewaltmonopol im Land.
Fleecejacke, Trekkinghose, ein um die Taille befestigtes Tuch als eine Art Überrock, gedeckte Farben: Für westliche Verhältnisse bin ich durchaus dezent gekleidet. Anstoß an meinem Auftreten nimmt niemand - zumindest nicht merklich: Ein Blickfang bin ich trotzdem. Jede Frau ohne Burka ist das.
Ahmed, der in Kabul studiert, entdeckt mich beim Bäcker, der mir gerade einen frischen Laib Brot schenkt. Gemeinsam machen wir uns zum Gästehaus auf. Ziehen durch das Stadtzentrum. "So viele Bärte überall", ruft der säuberlich glatt rasierte Ahmed plötzlich aus und verdreht seine Augen. "Seit die Taliban Ishkashim fast eingenommen haben, lassen sich viel mehr Männer lange Bärte wachsen. Weil sie Angst vor ihnen haben."
"Und die Burkas?", frage ich. Dafür seien die in der Stadt lebenden Sunniten verantwortlich, meint Ahmed. Nachdem sunnitische Männer der Auffassung seien, schiitische Frauen ohne Burka wären Freiwild, trage nun jede Frau diese Ganzkörperverhüllung. Was die Taliban ändern würden, will ich wissen. "Frauen würden gar nicht mehr außer Haus gehen. Nicht arbeiten dürfen. Die Taliban würden alle Mädchenschulen schließen und zerstören. Bubenschulen mitunter auch."
Ahmed seufzt und erinnert daran, wie es war, als die Taliban vor den Toren Ishkashims standen. Ich erinnere mich an meinen damaligen Facebook-Feed, an Ahmeds Angst. Abzulesen an seinen Postings und jenen seiner Bekannten. In der Nacht auf den 29. April 2017 dann die Gewissheit: Zebak, wenige Kilometer von Ishkashim entfernt, ist in der Hand der Taliban. Die Frühjahrsoffensive hat bereits begonnen - und sie ist richtungsweisend. Die Meldungen in meiner FB-Chronik überschlagen sich. Zwischen süßen Tiervideos, österreichischer Tagespolitik und netten Urlaubsfotos mischt sich die Angst der Leute aus Ishkashim und Umgebung.
Vertreibung der Taliban
Die Polizei habe sich als Erste davongemacht, heißt es. Die Taliban haben bereits Dörfer des Bezirks Ishkashim eingenommen, lese ich. Die nächste Meldung verheißt nichts Gutes: Tadschikistan evakuiert NGOs entlang der afghanischen Grenze. Auf der tadschikischen Seite hört man die Gefechte, vermelden Medien. Auch afghanische IS-Kämpfer sind nicht weit entfernt. Vom erhofften kurzen Prozess mit den Taliban ist keine Rede mehr, die Rückeroberung durch das Militär keineswegs sicher.
Dann doch: Die Meldung, dass das Militär erfolgreich war, lässt aufatmen. Es ist die erste positive Nachricht seit langem. Ahmed zeigt sich wieder zuversichtlich.
Die Taliban werden erfolgreich zurückgedrängt, rund 150 ihrer Kämpfer fallen auf der einen und 20 Soldaten auf der anderen Seite. Vor Ort ist man sich sicher: Nur die politische Intervention des religiösen Oberhauptes der ismailitischen Schiiten, Aga Khan, habe alle vor Schlimmerem bewahrt. Er gilt als einer der reichsten Männer der Welt und soll dem afghanischen Premier einen Besuch abgestattet haben, um dem Militär auf die Sprünge zu helfen. Seit der Eskalation damals bleiben die Taliban Ishkashim fern.
"Sie schließen Schulen und führen die Menschen ins Verderben. Wie sollen wir das akzeptieren?" Betretenes Schweigen. Als ich abends den Gemeinschaftsraum meiner Unterkunft betrete, gerate ich prompt in eine Diskussion über die aktuelle Lage des Landes. Ahmed spricht über das Abkommen zwischen den USA und den Taliban, das zu diesem Zeitpunkt gerade verhandelt wird. Er befürchtet, dass die USA am Ende zu großen Zugeständnissen an die Taliban bereit sind. Ahmed sollte recht behalten.
Seit der Einigung auf das Abkommen im Februar 2020 steht fest, dass sich die Taliban dazu verpflichten, die US-Streitkräfte sicher aus dem Land ziehen zu lassen, fortan keine anderen Terrororganisationen zu unterstützen und mit der afghanischen Regierung weiterführende Gespräche zu führen. Denn die afghanische Regierung wurde in die Verhandlungen gar nicht miteingebunden. Eine herbe Niederlage. Dass die Taliban ihre Verbindungen zu Terrororganisationen wie der al-Quaida wirklich kappen, ist mehr als fraglich. Und dass ausländische Soldaten das Land verlassen, liegt ohnehin in ihrem Interesse. Zu einer Waffenruhe erklärte sich die Terrororganisation nicht bereit.
Die drei anderen anwesenden Männer stimmen Ahmed zu. Einer, er ist aus der Stadt Mazar-i Sharif, führt den flächendeckenden Vormarsch der Taliban auf politischen Unwillen zurück. Auf Korruption sowieso. Denn auch mit der Regierung ist das so eine Sache. Staatliche Organe sind im ganzen Land längst von regionalen Gewaltakteuren unterwandert. Drogenbosse, Warlords und Kommandeure regionaler Milizen bekleiden politische Ämter, sitzen in der Polizei und in der Justiz.
Der junge Mann erinnert an die Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon im September 2001. Innerhalb kürzester Zeit riefen die USA die Coalition against Terrorism ins Leben, nahmen gezielte Angriffe vor, sodass die Taliban schon im Dezember des gleichen Jahres ihre letzte Bastion, die Stadt Kandahar, verloren und flächendeckend als besiegt galten. "Es war so einfach. Sie könnten das wieder tun. Uns von der Taliban befreien", ist sich der Mann sicher.
Es stimmt, dass die militärische Intervention der USA kurzzeitig erfolgreich war. Nur wurde der Konflikt damit nicht gelöst, sondern vertagt. Die dezimierten Taliban-Einheiten zogen sich vorübergehend nach Pakistan zurück. Die eigentliche Herausforderung lag nun darin, einen demokratischen Staat mit einem Gewaltmonopol aufzubauen. Die Auflösung einer Vielzahl von Gewalt- und Machtakteuren ohne staatliche Kontrolle gelang indes nicht. Ein funktionierender Nationalstaat, mit dem sich seine Bevölkerung identifiziert, existiert nur auf dem Papier.
Keine Strategie
Die UN initiierte nach dem Sieg über die Taliban 2001 Verhandlungen verschiedener Interessensgruppen innerhalb Afghanistans, um den Aufbau eines demokratischen Nationalstaates voranzutreiben. Aber die kleinteiligen Machtkonstellationen im Land stellten eine heillose Überforderung dar. Es fehlte eine stringente Strategie. So wurden Gewaltakteure teilweise ignoriert oder bekämpft, dann kooperierte man wieder mit ihnen.
"Ganz gleich, ob ich nun bestimmte Gegenden und Menschenansammlungen meide: Wenn ich in Kabul außer Haus gehe, kann ich nie mit Bestimmtheit sagen, ob ich wiederkehren und meine Familie wiedersehen werde", bringt Ahmed nüchtern das mir Unbegreifliche auf den Punkt. Für sein Studium muss er immer wieder in die Hauptstadt. Nicht nur Kabul selbst, auch der Weg dorthin birgt Gefahren. Rund 30 Autominuten von Ishkashim entfernt trifft man auf die ersten Taliban-Checkpoints. Erst ab Faizabad gilt die Straße wieder als sicher. Was lediglich heißt, dass sich das Gebiet nicht unter Taliban-Kon-trolle befindet, aber Überfälle keineswegs ausschließt.
Dabei gälte es auch bei den Taliban zu unterscheiden, meint Ahmed. Anzunehmen, die Taliban wären ein monolithischer Block, ist falsch. Auch sie stehen vor der Herausforderung, dass lokale Kampfverbände ihre eigenen Interessen verfolgen. Auf diesen Reisen habe er es ausschließlich mit usbekischen, tadschikischen und chinesischen Taliban-Einheiten zu tun, erklärt Ahmed. Die wären etwas weniger gefährlich als die paschtunischen Taliban-Kämpfer in anderen Teilen des Landes.
Regionale Machtzentren
"Bei den paschtunischen Taliban reicht es, Pamiri zu sein. Dann fangen sie dich aus dem Bus und töten dich", sagt Ahmed zu meiner Bestürzung. "Leute, die für die afghanische Regierung arbeiten oder verdächtigt werden, diese zu unterstützen, werden von egal welchen Taliban ebenfalls umgebracht."
"Eben das ist der Grund, wa-rum ich nie wählen gehe", wirft der Mann aus Mazar-i Sharif ein, "deswegen befinden sich keine Election-Sticker auf meiner ID-Card. Wenn mich die Taliban aufhalten, zeige ich ihnen meinen Ausweis und erkläre, dass ich die Regierung nicht unterstütze und deswegen nicht wählen gehe. Das hilft." In Afghanistan für Demokratie einzustehen, bedeutet, sein Leben zu riskieren.
Derzeit befinden sich Afghanistans Regierung und die Taliban nach einer wochenlangen Unterbrechung wieder am Verhandlungstisch. Ein innerafghanischer Frieden soll her. Begleitet werden die Verhandlungen von zahlreichen Anschlägen der Taliban gegen Staatsbedienstete, darunter Polizisten und Richterinnen. Die Taliban sitzen am längeren Hebel, militärischer Druck durch den Westen und eine radikale Kehrtwende beim US-amerikanischen Rückzug werden auch unter Joe Biden nicht erwartet.
Weder die Taliban noch die Regierung sind monolithische Blöcke - und die von regionalen Machteliten zersetzte Staatsgewalt ist kein Repräsentant für eine friedliche Demokratie. Aus den Verhandlungen werden die Taliban als anerkannte politische Macht und Sieger hervorgehen. Aber auch sie stehen letztlich vor der Herausforderung, ein Machtmonopol errichten und flächendeckende Kontrolle über die vielen Gesellschafts- und Herrschaftsstrukturen im Land ausüben zu müssen.
Priska Seisenbacher, 1990 geboren, lebt und arbeitet in Wien. Als
Fotografin und Autorin liegen ihre Schwerpunkte auf dem persischen
Kulturraum und Zentralasien. Zuletzt erschien von ihr der Lesebildband "Im Pamir. Vom besonderen Leben in einer entlegenen Welt".