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Russland zieht zehntausende Soldaten an den Grenzen zur Ukraine zusammen. Droht Krieg?
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Es ist ja nicht so, dass es in den letzten Jahren an Krisen zwischen Russland und der Ukraine - oder, in größerem Rahmen, zwischen Russland und dem Westen - gefehlt hätte. Beginnend bei Konflikten um Öl- und Gaspreise in den Nullerjahren war spätestens mit der Annexion der zuvor ukrainischen Halbinsel Krim durch Russland und dem Beginn des Krieges im Donbass kein Raum für Kompromisse mehr vorhanden. Zwar versuchte der 2019 gewählte junge ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj zunächst eine Politik des Ausgleichs mit Moskau, um den Krieg im Donbass zu beenden. Die Unbeweglichkeit des Kremls in Sachen Ukraine und der Umstand, dass Selenskyj in Kiew unter Druck der Nationalisten geriet und seine Politik anpasste, verhinderten jedoch eine Aussöhnung. Seit der ukrainische Staatschef drei Fernsehstationen verboten hat, die dem russlandfreundlichen Oppositionsblock nahestehen, und seit er gegen den Oligarchen Wiktor Medwedtschuk - einen Freund des russischen Präsidenten Wladimir Putin - ein Strafverfahren wegen Hochverrats einleiten ließ, stehen die Zeichen zwischen Moskau und Kiew wieder auf Sturm.
Das wurde bereits im vergangenen Frühjahr sichtbar, als Russland mehr als 100.000 Soldaten an den Grenzen der Ukraine zusammenzog - offiziell zu einem Manöver. In Kiew und bald darauf auch im Westen wurde über einen Einmarsch Russlands in die Ukraine spekuliert. Die Spannungen schaukelten sich zu einem wochenlangen Säbelrasseln hoch. Letztlich zog Moskau - im Vorfeld eines Gipfels zwischen Putin und seinem US-Widerpart, Präsident Joe Biden - die Truppen wieder ab.
Doch nicht lange. Denn heute, gut ein halbes Jahr später, stehen die Zeichen wieder auf Eskalation. Diesmal waren es nicht die Ukrainer, sondern liberale US-Medien wie "Politico" oder die "New York Times", die als Erste Alarm schlugen: Es lägen Geheimdienstinformationen über einen russischen Angriff auf die Ukraine vor. Und wieder massierte Russland seine Truppen an den Grenzen zur Ukraine - mindestens 92.000 Soldaten sollen dort stationiert sein, meldete der ukrainische Militärgeheimdienst. Russland würde sich auf einen Angriff im Jänner oder Februar vorbereiten. Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba warnte Putin am Donnerstag vor einem solchen Schritt: Ein Angriff auf die Ukraine wäre "zu kostspielig", daher sei es besser, ihn zu unterlassen. Und Nato-Genetralsekretär Jens Stoltenberg sagte am Freitag, wenn Russland Gewalt gegen die Ukraine anwende, "wird das Konsequenzen haben." Russland beteuerte, keine derartigen Absichten zu haben - und wies auf die jüngsten Nato-Manöver an seinen Grenzen hin, die es als Bedrohung seiner Sicherheit ansieht.
Vor Staatsstreich in Kiew?
Geht es nach Selenskyj, müssen es aber nicht unbedingt russische Soldaten sein, die die Ukraine bedrohen. Am Freitag sagte er auf einer Pressekonferenz, ihm lägen Geheimdienstinformationen vor, dass am 1. oder 2. Dezember ein Putsch in Kiew stattfinden solle. Der Staatsstreich solle mithilfe von Akteuren aus Russland durchgeführt werden - unter Mitwirkung des ukrainischen Oligarchen Rinat Achmetow. Es gebe aufgezeichnete Gespräche, so Selenskyj, in denen von einer Milliarde Dollar die Rede gewesen sei. "Ich gehe davon aus, dass Achmetow hier hineingelegt werden solle, dass man ihn in einen Krieg gegen den ukrainischen Staat hineinzieht", sagte er.
Achmetow gilt als der reichste Oligarch in der Ukraine. Seine TV-Sender haben sich Selenskyj gegenüber lange freundlich verhalten. Das hat sich geändert - Selenskyj und Achmetow befinden sich in einem offenen Konflikt miteinander. Für den Präsidenten hat der Liebesentzug des Oligarchen, der mehrere einflussreiche TV-Sender besitzt, Auswirkungen: Seine Umfragewerte sind in den letzten Wochen von etwa 30 auf unter 20 Prozent gesunken. Die Anschuldigungen gegenüber Achmetow - und Russland - könnten also auch innenpolitisch motiviert sein - zumal Selenskyj noch am Freitag wieder zurückruderte, seine Aussagen relativierte und einen Staatsstreich unter Beteiligung des Militärs ausschloss.
Selbiges könnte auch für die Meldungen von einem nahenden russischen Angriff gelten: Der Umstand, dass es zuerst US-Medien waren, die Alarm schlugen, während die Polit-Szene in Kiew vergleichsweise ruhig blieb, könnte laut Beobachtern ein Hinweis darauf sein, dass diesmal auch die US-Innenpolitik eine Rolle spielt. Schließlich sind im neuen US-Verteidigungshaushalt, der erst verabschiedet werden muss, deutlich höhere Hilfen für die Ukraine vorgesehen als bisher - Waffen, Militärberater und Ausbildner. Hierfür würde die drohende Gefahr einer russischen Großoffensive eine passable Begründung liefern. Und Putin drängt auf ein neues Treffen mit Biden im Jänner. Auch für ihn könnte der Konflikt als passende Drohkulisse dienen.
Angst vor Zerfall
Dennoch sollte man sich nicht darauf verlassen, dass bei den zahlreichen Konflikten mit Russland, die in immer geringeren Abständen stattfinden, nichts passiert. Denn in der Ukraine hat der Westen aus russischer Sicht eine rote Linie überschritten. Der Umstand, dass USA und EU den Euromaidan in Kiew unterstützten, hat in Moskau die Ansicht verfestigt, es sei das Ziel des Westens, Russland zu schädigen - und im Idealfall zum Zerfall zu bringen. Besonders ein Nato-Beitritt der Ukraine gilt als eine Art Kriegserklärung. Putin selbst brachte in einem viel beachteten Text kürzlich zum Ausdruck, dass er Russen und Ukrainer als "ein Volk" ansieht. Ein Putsch oder schlimmstenfalls eine Militärintervention wären also durchaus denkbar, um das aus Moskauer Sicht Schlimmste abzuwehren: die Nato in Kiew.