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Machtverschiebung

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
Walter Hämmerle.
© Luiza Puiu

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Die Reihe der zeithistorischen Ereignisse dieser Wochen wird am Mittwoch um eine Episode länger, wenn sich Brigitte Bierlein als erste Kanzlerin mit ihrem Beamtenkabinett dem Parlament präsentiert. Das Aufeinandertreffen ist aus gleich mehreren Gründen heikel wie interessant.

Gemeinhin weiß eine Regierung, was sie im Hohen Haus erwartet: Die Unterstützung der Koalitionsfraktionen ist ihr so gewiss wie die Kritik der Opposition. Das ist nun anders. Zum ersten Mal gibt es tatsächlich einen genuinen Interessengegensatz zwischen Regierung und Parlament: Die Kanzlerin will bewusst lediglich die Geschäfte bis zum Antritt einer neuen Regierung führen. Das entspricht auch dem Auftrag des Bundespräsidenten. Die Fraktionen dagegen haben einen klaren Plan, was sie an Inhalten und Themen vor den Wahlen noch alles durchsetzen beziehungsweise verhindern wollen, um selbst optimal in den Wahlkampf zu starten. Gerne auch in wild wechselnden politischen Koalitionen und Konstellationen.

Darin besteht der kategorische Unterschied zwischen dieser Regierung und diesem Parlament, das sich deutlich wie selten vom maximalen Eigennutz der Fraktionen leiten lassen wird - und dies ohne verbindliches Arbeitsübereinkommen, das für Struktur und Planbarkeit sorgt.

Für sich genommen ist diese Konstellation weder ungebührlich noch außergewöhnlich, nur eben in Österreich bislang noch nicht da gewesen.

Damit liegt auf den Fraktionen ein ungewöhnlich großer Anteil der politischen Macht in dieser Republik. Die ungeschriebene Verfassung sieht das Kanzleramt als deren natürliches und ordnendes Zentrum. Das ist jetzt anders. Erst im Nachhinein werden wir wissen, wie viel Ordnung und Struktur jenseits der unmittelbaren Nutzenmaximierung die Politik in Österreich benötigt.

Das Kabinett Bierlein ist hier in einer prekären Lage. Die Kanzlerin wird bei ihrer ersten Rede im Nationalrat zweifellos im Sinne der Berechenbarkeit der Politik an das Verantwortungsgefühl der Fraktionen appellieren, sie wird einmal mehr ihr Amtsverständnis als Dienerin der Republik in den Vordergrund stellen.

Vor den Rednerinnen und Rednern der Fraktionen müssen sich Bierlein und ihr Team an diesem Tag nicht fürchten. Vorschusslorbeeren und freundliche Willkommensworte werden den Ton bestimmen. Sorgen muss sich die erste Kanzlerin dagegen machen, was die kommenden Wochen und Monate im Parlament bringen könnten. Wir erleben ein Feldexperiment am demokratischen Körper der Republik, ohne gesicherte Theorie für das, was jetzt passieren wird, passieren könnte. Alles was wir haben, sind eine Handvoll ungesicherter, höchst ungewisser Hypothesen.