Zum 200. Geburtstag von Gustave Flaubert, dem normannischen Eremiten und Schöpfer des modernen Romans.
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Die beiden größten Heroen des französischen Romans kommen in diesem Jahr zu besonderer Ehre. War es am 10. Juli der 150. Geburtstag Marcel Prousts, des Großmeisters der Suche nach der verlorenen Zeit, so kann am 12. Dezember der 200. Geburtstag des Grantlers aus Croisset, Gustave Flaubert, gefeiert werden.
Beide Autoren stehen für einen Epochenwechsel in der französischen Literatur: Flaubert für den endgültigen Übergang zum realistischen Roman, Proust für das Aufspüren der Tiefendimensionen menschlichen Handelns. Beide werfen einen desillusionierenden Blick auf die Gesellschaft ihrer Zeit, beschreiben deren Erosionsprozesse, beide bringen die französische Sprache auf nie wieder erreichte Höhen.
Ungleich ähnlich
Aber auch biografisch gibt es zwischen den beiden äußerlich so unterschiedlichen Autoren erstaunliche Parallelen: hier der schmächtige, ewig frierende, im Bett in einem geräuschisolierten Zimmer schreibende Proust, dort der robuste, streitbare Normanne Flaubert, der seine Verachtung bürgerlicher Borniertheit in die Nacht hinausbrüllt. Beide sind Söhne berühmter Ärzte, beide haben eine stark ödipal geprägte Mutterbeziehung, beide hält eine schwere Erkrankung - Asthma beziehungsweise Epilepsie - vom Erwerbsleben fern, beide können dies durch ein Erbe kompensieren, beide ziehen sich vom sogenannten aktiven Leben zurück und widmen ihre ganze Kraft der Literatur.
Beide vollbringen ihr Werk im Kampf gegen sich selbst in einer Art Selbstvergewaltigung. Beide sind für die Freundschaft begabt und begnadete Briefeschreiber, ihre Briefwechsel sind Apologien der Einsamkeit. Beide hegen eine große unerfüllte Liebesleidenschaft: Proust zu seinem tödlich verunglückten Chauffeur Agostinelli, Flaubert zur verheirateten Elisa Schlesinger, in die er sich mit 14 Jahren unsterblich verliebt und die sein lebenslanges Ideal bleiben wird, übrigens in "Mémoires d’un fou" auch seine erste Romanheldin. Beider Werke sind einsame Leuchttürme ohne Nachfolge und last but not least: Beide bereiten ihren Übersetzern endlose Schwierigkeiten, lösen bis heute heftige Debatten aus, und beide genießen die kultische Verehrung weltweiter Fangemeinden.
Flaubert hat seinen Hass gegen den Bourgeois als Kampf gegen dessen Ideen- und Sprachwelt systematisiert. Er hat dazu ein eigenes "Wörterbuch der Gemeinplätze" erstellt. Proust entlarvt subtiler, lässt seine Emporkömmlinge in ihren sprachlichen Klischees plappern. "Die menschliche Sprache ist wie ein gesprungener Kessel, auf dem wir Melodien für Tanzbären trommeln, während wir eigentlich die Sterne erreichen möchten", schreibt Flaubert, und nichts könnte seine künstlerischen Intentionen besser beschreiben. Tage- und nächtelang ringt er um das mot juste, den richtigen Ausdruck.
Flauberts Rezeption ist weitgehend auf die "Éducation sentimentale" und vor allem auf "Madame Bovary" fokussiert. "Romantiker im Herzen, fand er die unromantische Aufgabe vor, den Roman seiner Zeit zu schreiben. Niemand hat einen weiteren Weg zurückgelegt", so Heinrich Mann in seinem Flaubert-Essay. Und für Marcel Proust hat der Stil des Romans "unsere Sicht der Dinge beinahe ebenso erneuert wie Kant". Für viele ist dieses Ehe- und Sittengemälde aus der französischen Provinz der vollkommene Roman.
Seinen Stil erarbeiten
Flaubert, dem Jean-Paul Sartre in seinem Mammutwerk "Der Idiot der Familie" zu einer posthumen Psychoanalyse verholfen hat, das nur langsam lesen lernende, aber früh zu schreiben beginnende Kind, hat über zwanzig Jahre hinweg tausende von Seiten für die Schublade produziert. Er war auf der Suche nach einem Romanstil mit der Dichte der Lyrik, "rhythmisiert wie der Vers und präzis wie die Sprache der Wissenschaft" - hat sich dabei aber immer wieder im Gehege romantischer Klischees und orientalischer Erzählfreude verirrt, sich entfesseltem Lyrismus und sprachlichen Orgien hingegeben, wie Freund Louis Bouilhet klagt.
Erst nachdem dieser und Maxime Du Camp, der zweite Dichterfreund, ihn bitten, sich ein schlichtes realistisches Sujet zu suchen, nachdem sie stundenlange Lesungen aus der "Versuchung des Heiligen Antonius" hatten anhören müssen, findet Flaubert Ziel und Form.
Eine Nachricht in einem Lokalblatt führt zur Wende. Es ist die Geschichte vom Selbstmord der Landarztgattin Delphine Delamare, die unter ihrer mittelmäßigen Ehe leidet, weil sie sich nach dem Vorbild von Romanen und Frauenjournalen ein Leben in Luxus und Leidenschaft vorgestellt hat. Als ihre Fluchtversuche via Liebhaber und Konsum kläglich scheitern, nimmt sie, von Schulden erdrückt, schließlich Gift.
Enttäuschte Träume
Dieses verpfuschte Leben beginnt Flaubert grandios in Szene zu setzen: In einer Art Stationendrama zeichnet er den Lebensweg einer schönen jungen Frau nach, der Tochter eines reichen Bauern, die im Kloster erzogen wird und sich dort ihr Bild von der Welt mit der Lektüre der populären romantischen Literatur ihrer Zeit macht, mit der sie sich vor allem, was Liebesgeschichten angeht, völlig identifiziert. Der mit ihren romantischen Schwärmereien überforderte Vater verheiratet sie mit dem ersten Bewerber, der auftaucht, dem verwitweten Landarzt Charles Bovary.
Damit beginnt für Emma ein langer Weg der Desillusionierung und verzweifelter Versuche, sich aus ihrer bedrückend öden Ehe zu befreien. Der Weg führt zunächst über die Mutterrolle - die sie nicht ausfüllen kann, da sie sich einen Sohn und "männlichen Rächer" gewünscht hat - zum Ehebruch, zu Liebesaffären mit zwei Liebhabern, die durchschnittlich, geizig und verlogen sind und sie beide verraten. Schließlich flieht sie in Luxus und Verschwendung, Selbstaufgabe und finanziellen Ruin und letztlich in den grässlichsten Suizid der Literaturgeschichte, bei dem wir, wie der Autor selbst, Arsen auf den Lippen zu schmecken meinen.
Flaubert arbeitet sich an diesem Sujet 55 quälende Monate lang ab, braucht zur Perfektionierung eines Satzes manchmal zwei Tage, verzichtet zunächst auf die Buchveröffentlichung, als er Passagen streichen soll und er, beziehungsweise sein Roman, wegen Verletzung von Religion und öffentlicher Moral vor Gericht gezerrt wird - ein Schicksal, das im gleichen Jahr (1857) auch seinen Bruder im Geist der Lyrik, Charles Baudelaire, ereilt. Literarisch ist Emma Bovarys Überleben gesichert. Sie wird mit Anna Karenina und Effi Briest, die erst Jahrzehnte später am literarischen Horizont auftauchen, zur Kronzeugin gegen die bürgerliche Ehe überhaupt. Adultère - Ehebruch - war eines der Lieblingswörter Flauberts.
Was aber fasziniert uns bis heute so an dieser Figur, dass uns ihr Schicksal ergreift, obwohl Flaubert ihre klischeehaften Vorstellungen vom Leben und der Liebe wie mit dem Skalpell seziert, ihre religiösen und literarischen Stereotypen gründlich denunziert? Ist es die große Kunstfertigkeit ihres Autors, die in der erstmals eingesetzten "erlebten Rede", der gekonnt angewandten Leitmotivtechnik, den detailgenauen Beschreibungen und kunstvoll verschränkten Szenen uns die Figur in ihrem Leiden und Sterben so nahebringt, dass die Grenzen von Fiktion und Realität verschwimmen? Oder ist es das Exemplarische ihres Falles, das sie unvergesslich macht?
Emma beginnt ihr Leben als poetischen Traum und beschließt es verlassen, ruiniert, gedemütigt, in grausamster Ernüchterung. Dieses große Thema der Desillusionierung wird in zahlreichen Szenen variiert, in denen sich der Rhythmus von Erwartung und Enttäuschung ständig wiederholt. Das beginnt schon mit der Hochzeit, die sich Emma um Mitternacht im Fackelschein wünscht und die eine ordinäre Bauernhochzeit wird. Die "neue Seelenstimmung" erlischt schnell in der Banalität des Alltags, am Abendtisch mit dem schmatzenden Gatten und seiner Konversation, "die platt war wie ein Gehweg, auf dem Allerweltsgedanken in ihrer gewöhnlichen Tracht defilierten".
Einmal nur in ihrem Leben fallen Traum und Wirklichkeit, Spleen und Ideal zusammen: Bei dem Ball auf La Vaubyessard, als sie trunken mit dem eleganten Vicomte Walzer tanzt, während der arme Charles sich die Beine in den Bauch steht. Das verlorene grünseidene Zigarrenetui des Vicomte wird ihr zu einer Reliquie, die Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit immer unerträglicher: Ihr Herz gleicht ihren Atlasschuhen, "deren Sohlen gelb waren vom Wachs des glatten Parketts: Durch die Berührung mit dem Reichtum hatte sich etwas darübergelegt, was nicht mehr verschwinden sollte".
Der Wechsel von Illusion und Desillusion setzt sich als Muster fort: bei der Liaison mit dem berechnenden Frauenhelden Rodolphe; beim Versuch, ihre Ehe zu retten, indem sie den überforderten Charles zu jener fatalen Klumpfußoperation überredet, die ihm Ruhm und Geld bringen soll, aber kläglich scheitert; bei ihrer Flucht in Krankheit und religiöse Ekstase; bei der leidenschaftlichen Liebesbeziehung mit Léon im zweiten Anlauf, bei der sie wie in der berühmten Kutschenszene alle Hüllen und Skrupel fallen lässt. Hier zeigt sie fast männliche Züge: "Er wurde ihre Mätresse, mehr jedenfalls als sie die seine."
Gegen die Banalität
Vom neunten Kapitel des zweiten Teiles an umhüllt sie den Roman mit einem Hauch glühender Sinnlichkeit. "Es ist unmöglich, Emmas Talent zur Lust nicht zu bewundern", so Mario Vargas Llosa, für den Emma "die Liebende aller Romane, die Heldin aller Dramen, das unbestimmte sie aller Gedichtbände" ist. Aber auch für die Affäre mit Léon gilt, dass "Emma im Ehebruch alle Banalitäten der Ehe wiederfand". Ihre Sucht nach Ersatzbefriedigungen macht sie zu einem willigen Opfer der Warenwelt - der Händler und Wucherer Lheureux treibt sie in seinem teuflischen Spiel des buy now, pay later ins Verderben.
Heute würden wir sagen, Emma sucht verzweifelt einen anderen Lebensentwurf, sie rebelliert, resigniert und kämpft von Neuem. Isabelle Huppert, die Emma in Claude Chabrols grandioser Verfilmung verkörpert, sagt über die Figur: Was sie rettet, ist ihr Mut zu kämpfen, sich nicht abzufinden mit der Banalität ihrer Lebenswirklichkeit. Das rettet sie natürlich nur in unseren Herzen: "Meine arme Bovary leidet und weint ganz sicher in 20 Provinzdörfern Frankreichs gleichzeitig, zu eben dieser Stunde", schrieb Flaubert an Louise Colet, seine ferne und ferngehaltene Muse und Dauergeliebte. Ihre Träume waren "in den Schmutz gefallen wie verletzte Schwalben".
Leiden und Sehnsucht
Und heute? Vielleicht sind auch wir wie der betrogene Charles untröstlich über ihr entsetzliches Ende: "C’est la faute de la fatalité" - Das Schicksal ist schuld.
Hinterlassen hat sie einen ruinierten, gebrochenen Ehemann, eine verarmte Tochter und uns einen Namen für ihr Leiden an der Realität. Seit 1892 beschreibt der Begriff Bovarysmus genau das: Ungenügen an banaler Lebenswirklichkeit, Sehnsucht nach einem wie immer gearteten Anderswo, Eskapismus, Lebenslüge - etwas, was unser Leben noch stärker prägt als das der armen Emma Bovary und vielleicht sogar ein Kennzeichen modernen Lebensgefühls geworden ist; ebenso wie die Jahrhundertkrankheit des Ennui, "diese lautlose Spinne, die ihr Netz im Finstern über jeden Winkel ihres Herzens wob".
Literaturhinweis:
Guy de Maupassant: "Über Gustave Flaubert". Aus dem Französischen von E. W. Fischer. Nachwort von Elisabeth Edl. Alexander Verlag, Berlin 2021.
Barbara von Machui ist Romanistin und Germanistin und organisiert für den Deutsch-Französischen Kulturkreis in Heidelberg Veranstaltungen zu französischer Literatur und französischem Kino.