Die Hälfte der Venezolaner ist für, die andere Hälfte gegen Sozialismus.
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Caracas. Nur Sekunden, nachdem Wahlratsleiterin Tibisay Lucena gegen Mitternacht das hauchdünne Ergebnis verkündet, lassen die Sieger das übliche Feuerwerk in den Himmel steigen. Venezuelas staatliche Medien feiern den Wunschkandidaten des verstorbenen sozialistischen Revolutionsführers Hugo Chávez, Nicolas Maduro, als neuen Präsidenten des südamerikanischen Landes. Und doch ist diesmal alles anders als bei allen vorangegangenen Triumphen des populären "Comandante Presidente".
Bereits am Freitag soll Maduro vereidigt werden. Bisher haben nur Lateinamerikas linksgerichtete Regierungen dessen Wahlsieg anerkannt und ihre Teilnahme zugesagt. Maduro muss angesichts der von der Opposition verbreiteten Gerüchten über Unregelmäßigkeiten und Wahlmanipulationen die Rechtmäßigkeit nur Minuten nach der Bekanntgabe seines Sieges betonen: "Die Wahl ist gerecht und verfassungsgemäß verlaufen", sagte der ehemalige Gewerkschaftsführer und würdigte "unser absolut vertrauenswürdiges Wahlsystem".
Maduro wirkt wie Capriles müde und blutleer, der kurze Wahlkampf hat alle seine Kräfte gefordert. Kein Vergleich zu den Siegesfeiern eines charismatischen Hugo Chávez. Der muss dafür herhalten, die Nationalhymne vom Band zu singen und die Revolution zu feiern. Es ist eine Begeisterung aus der Konserve.
Der unterlegene Kandidat Henrique Capriles verweigerte in einer die Anerkennung des Wahlsieges und verwies auf mehrere tausend Hinweise auf Unregelmäßigkeiten, die seine Kampagne erhalten habe. "Wir werden das Ergebnis so lange nicht anerkennen, bis nicht alle Urnen geöffnet und alle Stimmen ausgezählt wurden", forderte Capriles eine transparente und öffentliche Neuauszählung. "Wenn Sie alle Schwierigkeiten des heutigen Tages zusammenzählen, dann haben wir eine andere Sicht. Dieses Ergebnis spiegelt nicht die Wahrheit in diesem Land wider", sagte Capriles mit einem Stapel voller Meldungen in der Hand. Er rief seine Anhänger zu Protestmärschen auf, sollte sich Maduro schon zu Wochenbeginn als Präsident deklarieren. Nach dem Willen Capriles sollten am Mittwoch die Stimmen neu ausgezählt werden. Auch die USA mahnten eine Neuauszählung der Stimmen an. Angesichts der "Knappheit des Ergebnisses" wäre die Überprüfung ein "wichtiger, weiser und notwendiger Schritt", sagte der Sprecher von US-Präsident Barack Obama.
Anhänger der Opposition angeblich eingeschüchtert
Anhänger der Opposition veröffentlichten Bilder von motorisierten Banden, die Capriles-Anhänger angeblich eingeschüchtert und an der Wahl gehindert hätten, während die Nationalgarde tatenlos zugesehen habe. Wahlurnen seien bewusst in Hochburgen der Sozialisten platziert worden. "Betrug, Betrug", riefen die Capriles-Anhänger gleich nach der Veröffentlichung der Ergebnisse.
Vicente Díaz, der einzige Vertreter der Opposition in der fünfköpfigen staatlichen Wahlkommission, konstatierte: "Es hat Unregelmäßigkeiten gegeben." Das international renommierte Carter-Institut des ehemaligen US-amerikanischen Präsidentin Jimmy Carter bescheinigte dem venezolanischen Wahlsystem in der Vergangenheit dagegen eine tadellose Qualität.
Das Ergebnis offenbart zugleich die ganze politische Problematik in Venezuela. Die Hälfte der Venezolaner ist vom Sozialismus überzeugt, die andere Hälfte lehnt ihn rundweg ab. Venezuela ist keine linke Diktatur, wie es die Teile der Opposition den sozialistischen Machthabern vorwerfen. Aber es ist eine asymmetrische Demokratie, in der die Sozialisten in den Institutionen überproportional mächtig vertreten sind. Diese totale Dominanz in Justiz, Politik und Sicherheitskräften wird Maduro helfen, alle seine Vorstellungen problemlos durchzusetzen.
Rund 7,2 Millionen Stimmen haben die Opposition mutig werden lassen, ihr Recht auf angemessene politische Präsenz zu fordern. Rund 700.000 Stimmen hat Capriles dem von einem gewaltigen staatlichen Macht- und Medienapparat unterstützten Regierungslager innerhalb von knapp sieben Monaten abgenommen. Venezuela ist nach der Wahl von Sonntag ein anderes Land.