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Magersucht zeigt sich im Gehirn

Von Frank Ufen

Wissen
Der Blick in den Spiegel zeigt ein Trugbild.
© Images.com/Corbis

Bei Betroffenen sind zwei Gehirnareale äußerst schwach miteinander vernetzt.


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Marne/Holstein. Magersucht (Anorexia nervosa) und Ess-Brechsucht (Bulimia nervosa) gehören zu den schwersten Essstörungen überhaupt. Dass psychische und sozio-kulturelle Faktoren erheblichen Anteil an ihrer Entstehung haben, ist unumstritten. Doch wie diese Faktoren zusammenwirken und was dabei im Einzelnen vor sich geht, ist noch kaum geklärt. So wird oft behauptet, Magersüchtige würden häufig aus Elternhäusern stammen, in denen Heranwachsende mit übersteigerten Leistungsanforderungen konfrontiert seien. Ferner wird vermutet, dass Kinder und Jugendliche, die sich von ihren überfürsorglichen Eltern ständig überwacht und kontrolliert fühlen, aus Protest magersüchtig werden könnten. Und schließlich gibt es noch die Hypothese dass Magersüchtige krampfhaft versuchen würden, sich einen kindlichen Körper zu bewahren, um verleugnete sexuelle Wünsche abzuwehren.

Niedriger Botenstoff-Spiegel

An Bulimie Erkrankte sollen dagegen oft aus Familien kommen, in denen es verpönt ist, Bedürfnisse, Gefühle und Meinungen offen zu äußern. Weiters wird behauptet, es sei für bulimische Jugendliche typisch, an Verlust- und Trennungsängsten zu leiden und aus Verunsicherung dazu zu neigen, sich den Urteilen anderer völlig zu unterwerfen. Außerdem wird angenommen, an Bulimie leidende weibliche Jugendliche könnten damit überfordert sein, das traditionelle und das moderne Verständnis der gesellschaftlichen Rolle der Frau miteinander in Einklang zu bringen.

Indessen wurde für Essstörungen auch eine organische Ursache gefunden: ein aus dem Gleichgewicht geratenes Immunsystem, das bestimmte körpereigene Botenstoffe angreift. Hierauf deuten Studien hin, die ein schwedisch-estnisches Forscherteam unter der Leitung des Neurowissenschafters Serguei Fetissov (Karolinska Institut, Stockholm) vor einiger Zeit durchgeführt hat.

Schon länger weiß man, dass Menschen, die unter Mager- und Ess-Brechsucht leiden, etwas Wesentliches gemeinsam haben: Eine Gruppe von Gehirn-Botenstoffen, die Neuropeptide, ist bei ihnen nur in äußerst geringer Konzentration vorhanden. Eines dieser Neuropeptide, das Alpha-MSH, spielt offenbar eine Schlüsselrolle bei der Regulierung des Hungergefühls und des Körpergewichts. Andere Neuropeptide sind an der Steuerung des sozialen Verhaltens und von Stressreaktionen beteiligt. Der Ursache des viel zu niedrigen Botenstoff-Spiegels ist Fetissovs Team vor kurzem erstmals auf die Spur gekommen. Als die Forscher nämlich das Blut von 12 Anorexie- und 42 Bulimie-Patientinnen untersuchten, stießen sie auf jede Menge Antikörper. Diese Antikörper attackieren, stören oder blockieren die Neuropeptide, in erster Linie aber das Alpha-MSH, und je mehr sie sich im Blut ansammeln, desto größer ist das Risiko, dass gravierende Essstörungen auftreten.

Antikörper, die gegen das Alpha-MSH gerichtet sind, sind freilich auch bei weiblichen Testpersonen ohne Essstörungen nachweisbar. Nach Fetissov liegt das daran, dass die Antikörper eigentlich bestimmte Krankheitserreger wie den Helicobacter oder das Influenza-A-Virus bekämpfen sollen, aber sich schwer damit tun, diese vom MSH zu unterscheiden. Er vermutet, dass nicht nur die Zahl der Antikörper bestimmt, ob es zu einer Essstörung kommt. Möglicherweise werden sie erst dann gefährlich, wenn es ihnen gelingt, ins Gehirn einzudringen. Doch das geschieht erst, wenn die Blut-Gehirn-Schranke durch ständigen Stress immer mehr durchlöchert wird. Dieser ständige Stress ist auch eine Folge des heute immer weiter um sich greifenden Körper- und Schlankheitskults. Heute leiden auch immer mehr männliche Personen an Mager- und Ess-Brech-Sucht, und die Patienten werden immer jünger.

Der Neuropsychologe Boris Suchan (Ruhr-Universität Bochum) hat einen weiteren Umstand entdeckt, der Essstörungen auslösen könnte: Berechnungsfehler, die dem Gehirn aufgrund einer Funktionsstörung ständig unterlaufen. Suchan berichtete jüngst darüber im Forschungsjournal "Behavioural Brain Research". Der Experte bat zehn magersüchtige und 15 gesunde Frauen, von mehreren unterschiedlichen Silhouetten auf dem Computer-Bildschirm jene auszuwählen, die in ihren Augen ihrer eigenen Körperform am stärksten ähnelten. Danach sollte eine Kontrollgruppe weiterer weiblicher Testpersonen anhand von Fotos der 25 Probandinnen beurteilen, wessen Figur mit welcher Silhouette jeweils am meisten übereinstimmte. Die Auswertung ergab, dass die gesunden Probandinnen dazu neigten, sich selbst als schlanker einzuschätzen, als sie von der Kontrollgruppe eingestuft wurden. Doch die an Magersucht leidenden Probandinnen waren aus Sicht der anderen viel dünner, als sie sich selbst sahen - ein unmissverständliches Indiz für eine verzerrte Wahrnehmung des eigenen Körpers.

Prädisposition oder Folge?

Als Suchan im Kernspintomografen analysierte, was im Gehirn der Testpersonen vorging, während sie Fotos weiblicher Körper ansahen, zeigte sich, dass bei den magersüchtigen Personen zwei Gehirnareale - die FBA (Fusiform Body Area) und die EBA (Extrastriate Body Area) - ungewöhnlich schwach miteinander vernetzt waren. Je weniger diese Areale interagierten, desto dicker empfanden sich die Magersüchtigen.

Schon früher ist Suchan auf eine andere Anomalie gestoßen: Bei Personen, die an Magersucht leiden, sind sowohl die EBA als auch die FBA mit ziemlich wenig Neuronen bestückt. Diese Erkenntnisse sprechen dafür, dass Magersüchtige sich mit einer Fehlsteuerung ihres Gehirns abplagen müssen, wodurch ihnen vorgegaukelt wird, einen zu fetten Körper zu haben. Die in bestimmten Teilen des Gehirns auftretenden Anomalien könnten aber auch nur Folge oder Begleiterscheinung der Magersucht sein. "Ob es sich bei den Auffälligkeiten des Gehirns um eine Prädisposition handelt, die die Entstehung einer Essstörung begünstigt, oder um Veränderungen, die erst durch die Krankheit auftreten, müssen weitere Studien zeigen", sagt Suchan.