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Mai ’68 und die Depression

Von Isolde Charim

Gastkommentare
Isolde Charim ist Philosophin und Publizistin und arbeitet als wissenschaftliche Kuratorin am Kreisky Forum in Wien. Foto: Daniel Novotny

Über den Sinn von politischem Handeln.


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Noch einmal, bevor dieser Mai sich seinem Ende zuneigt, ein paar Gedanken zu jenem anderen Mai - jenem, der diesen Monat zu einem Prototypen für Politik, Rebellion und Jugend gemacht hat.

Das trübste und schwierigste Argument gegen ’68 ist jenes, wonach die damaligen Rebellen ungewollt das Geschäft des Kapitalismus betrieben hätten. Unwissentlich hätten sie jener Modernisierung die Bahn gebrochen, deren der Kapitalismus zu seiner Erneuerung bedurft hat.

In dieser Lesart wäre der Kapitalismus eine Art neuer Weltgeist, der voranschreitet - aber anders als der alte Weltgeist nicht zu einem Endzweck führt. Keine erlöste Gesellschaft, keine versöhnten Nationen, keine befreiten Individuen. In dieser Lesart wäre der Kapitalismus eher ein nie zu sättigendes Monster, eine gefräßige, unstillbare Gier. Wie Erysichthon, jene Gestalt der griechischen Mythologie, deren Hunger nie gesättigt, deren Durst nie gestillt werden kann. Eine solche schauderhafte Kraft wäre dieser Kapitalismus - ein Moloch, dessen einziges "Ziel", dessen einzige Antriebskraft es wäre, sich auszubreiten. Immer mehr Bereiche zu erfassen. Immer mehr Menschen. Immer mehr Orte. Immer mehr - seine einzige Logik.

Ein totalitärer Moloch, den keiner steuert - der nur verschiedene Positionen zuweist: Positionen, an denen man (sehr) viel mehr und Positionen an denen man (sehr) viel weniger profitiert. Aber lenken, lenken könne ihn keiner, diesen Kapitalismus. Ein solches sich verselbständigendes System, eine heißlaufende Bewegung, eine irre gewordene Dynamik, eine verschlingende Macht würde auch alles, was sich ihr in den Weg stellt, nicht nur bekämpfen, besiegen - sondern auch auffressen, benutzen, sich dienstbar machen.

In diesem Bild, in dieser Vorstellung, in dieser apokalyptischen Version, die unbemerkt, schleichend alle Vorstellungen von historischem Handeln, von selbstbestimmtem politischen Agieren wie ein Vampir ausgesaugt hat - in dieser Version setzt sich einfach die Logik des Systems durch und verschlingt auch die Gegenkräfte. So sei eben der Aufbruch der ’68er - mit ihrer Befreiung der Sexualität, mit ihrer Ermächtigung der Ausgeschlossenen, mit ihren Anerkennungskämpfen von Minderheiten - nichts anderes gewesen als der Umweg, auf dem die kapitalistische Logik, der kapitalistische Moloch seinem Weiter, seinem Mehr gefolgt sei. ’68 - eine Verkennung der Bedeutung des eigenen Handelns, das die Leute nur fit gemacht habe für die neuere kapitalistische Version.

Dieser düsteren Lesart von Geschichte und politischem Handeln steht paradoxerweise eine andere noch düstere Erzählung gegenüber - eine Erzählung aber, die das genaue Gegenteil behauptet: die Geschichte des Neoliberalismus. Diese wird erzählt als Geschichte von Thinktanks - wie die Mont Pellerin Society -, denen es gelungen sei, ihre Ideen zu verbreiten. Hier gibt es das also noch - Vorstellungen vom Handeln, von der Wirksamkeit von Ideen, vom Siegeszug von Überzeugungen. Hier glaubt man noch an einen Feldzug von Konzepten, an die weltverändernde Kraft von Theorien, an realitätsgestaltende Intentionen. Es wäre nicht die geringste Paradoxie, daraus Hoffnung zu schöpfen.